Debatte 60 Jahre Volksrepublik China: Starker Feigling
Die Regierung feiert 60 Jahre Volksrepublik mit Militärpomp und Geschichtsklitterung. Kritik daran weisen Führung und viele Chinesen zurück.
D ie chinesische Regierung feiert den 60. Geburtstag der Volksrepublik China pompös mit einer gigantischen Militärparade, riesigem Feuerwerk und vielen Ausstellungen über die politische Geschichte der VR. Doch immer wieder hat der Rückblick Lücken: Die Erinnerung an unglückliche Zeiten wird betäubt, der Millionen Opfer politischer Kampagnen wird nicht gedacht, nur die Erfolge zählen.
Beispielhaft ist etwa die Ausstellung "60 Jahre Nationalitätenpolitik" im Pekinger Nationalitätenpalast. Sie beginnt mit einem Bild von 1947: Fröhliche Mongolen versammeln sich zum ersten lokalen Volkskongress. Denn die Geschichte der mongolischen Minderheit ist in China ein wichtiges Thema. Weiter geht es mit einem Foto aus dem Jahr 1984: Ebenso fröhliche Mongolen erhalten ihre Herden zurück. Nun dürfen sie wieder im Familienverband wirtschaften, die Volkskommunen sind Vergangenheit.
Was aber geschah in den 37 Jahren, die zwischen beiden Fotos liegen? "Warum wollen Sie das wissen?", fragt die Führerin zurück. Sie weist auf die nächsten Exponate, die vom Aufschwung der Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und der Raumfahrt in der Inneren Mongolei künden. Verstimmt über meine Sorge um die verschwundenen Jahre, sagt sie: "Solche Fragen stellen nur Ausländer." Die Führerin ist dafür da, die historische Sichtweise nach den Vorgaben der Nationalitätenbehörde zu vertreten, und sie tut es mit Nachdruck. Wie unsicher aber muss eine Regierung sein, wenn sie Zwangskollektivierung und politische Verfolgung, die zerstörerische Industrialisierung unter den Teppich kehrt?
Die große Lüge der offiziellen Geschichtsschreibung halten nicht nur chinesische Dissidenten, sondern auch reformorientierte Kräfte in der Kommunistischen Partei (KP) für einen großen Fehler. Du Daozheng, ein 86-jähriger Parteiveteran, sagt über die Feiern zum 60. Jahrestag: "Statt viel Geld für Paraden zu verschwenden, sollten wir uns hinsetzen und gemeinsam darüber reden, was gut war und was schief gelaufen ist." Einst war der alte Du treuer Parteijournalist und später oberster Zensor. Heute jedoch gibt er eine Monatszeitschrift heraus, die unter liberalen Intellektuellen einen guten Ruf hat, und plädiert für eine freiere Presse.
Dass es China besser geht als früher, ist dabei unumstritten: Die Öffnung nach außen und die Privatwirtschaft haben in den vergangenen dreißig Jahren geholfen, das Leben eines großen Teils der 1,3 Milliarden Chinesen zu verbessern. Viele Bürger genießen persönliche Freiheiten wie noch nie zuvor. Sofern sie Geld haben, dürfen sie reisen und eine Wohnung kaufen, sie dürfen sich den Beruf aussuchen. Aufgrund der vielen Reisen ins Ausland kursiert inzwischen zudem das Wissen, dass die Städte anderer Drittwelt-Staaten chaotischer sind als ihre eigenen Metropolen. In Peking zu leben ist sicherer und bequemer als in Manila oder Jakarta - dafür sind viele ihrer Regierung dankbar.
Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Neben vielen anderen Problemen, etwa der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und der massiven Umweltverschmutzung, wird auch immer offenkundiger, wie zerbrechlich die viel beschworene Harmonie zwischen den Volksgruppen ist. Erst im vorigen Jahr kam es zu Unruhen in Tibet, dann brachen im Juli schwere ethnische Konflikte zwischen Uiguren und Han-Chinesen in der Grenzregion Xinjiang aus. Statt über die sozialen und politischen Ursachen nachzudenken und eine offene Debatte mit Vertretern der verschiedenen Volksgruppen über Wege aus der Misere zuzulassen, sucht die KP die Schuldigen im Ausland. Der Dalai Lama und die Exil-Uigurin Rebiya Kadeer seien Marionetten westlicher Mächte und wollten China von seinen Rändern her destabilisieren, erklären chinesische Funktionäre.
Solche Erklärungen leuchten vielen Chinesen ein, denn sie passen zu dem, was sie in ihren Schulbüchern gelesen haben: 150 Jahre lang hätten Europäer, Amerikaner, Russen und Japaner das alte Reich der Mitte mit Kanonen und Opium geschwächt. Erst Mao Tse-tung und seine KP hätten mit ihrem Sieg 1949 der Schmach ein Ende gesetzt. Diese Sicht der Dinge ist bis heute ideologische Herrschaftsgrundlage der KP. Deshalb verbietet sie Bücher, die sich mit dem Versagen der chinesischen Kultur und politischen Traditionen beschäftigen - selbst wenn sie die letzten sechzig Jahre gar nicht berühren. Das erlebte in diesen Tagen auch der chinesische Autor Xiao Jiansheng, dessen Buch "Rückblick auf die chinesische Zivilisation" verboten wurde.
Im Pekinger Kempinski-Hotel hält zwei Tage vor der großen Parade ein 88-jähriger KP-Veteran einen Vortrag vor europäischen und amerikanischen Geschäftsleuten: Sidney Rittenberg, gebürtiger Amerikaner, einer der wenigen Ausländer, die in Chinas Partei aufgenommen wurden. Auch er macht sich Sorgen um die Zukunft. Die Chinesen müssten endlich damit aufhören, sich stets als Opfer ausländischer Machenschaften zu sehen, sagt er. Der alte Du und der alte Rittenberg sind sich einig: Die große Geschichtslüge verhindert die dringend nötige Debatte der Chinesen über die Zukunft ihres Landes.
Wie viele Chinesen ihre Ansicht teilen, ist schwer zu sagen - über solche heiklen Themen darf es keine Umfragen geben. Nur so viel scheint klar: In der KP ist die Meinung gespalten. An der Macht bleiben jene, die solche Debatten auf unbestimmte Zeit vertagen wollen. Die gestrige Parade im Herzen von Peking zeigte, welche Vision KP-Chef Hu Jintao und die Männer im Zentrum der Partei dem Volk bieten wollen: des Glücks durch nationale Stärke. Die KP spricht von einer "Erneuerung des Vaterlands" und demonstriert mit einer perfekten Inszenierung, wie "stark sein" ihrer Ansicht nach aussieht.
Gleichzeitig hat sie so viel Angst vor Protesten aus der eigenen Bevölkerung, dass nur eine kleine Zahl ausgewählter Bürger an den Feiern teilnehmen darf. Die Straßen wurden weiträumig abgesperrt, Anwohner durften nicht mal aus dem Fenster auf die Parade schauen, sondern wurden aufgefordert, sich vor den Fernseher zu setzen. Viele Chinesen - nicht "nur" Uiguren und Tibeter - denken daher wie der Schriftsteller Liao Yiwu: "Sollen sie feiern. Das alles hat mit mir nichts zu tun."
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