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■ DaumenkinoOliver Stone:

„Am Anfang ist ,Natural Born Killers‘ wie eine Vergnügungsfahrt konzipiert. Er beginnt in den Köpfen der Mörder, halluzinatorisch, schizophren, aufregend. Dann wird es ein Spaßtrip, denn Mickey und Mallory haben bis kurz vor Schluß Spaß am Morden. In der Mitte des Films, als der Sensationsjournalist (Robert Downey) hinzukommt, ändert sich der Stil in eine Art TV-Magazinstil, wie man ihn eben aus dem Fernsehen kennt. Als zum Beispiel der Polizist auftaucht, der offensichtlich gerne an Mickeys Stelle wäre und Mallory aufreißen will, wird es richtig sensationslüstern, mit diesem typischen billigen Licht. Und als der Gefängnisdirektor kommt, sehen wir den Knast sofort mit seinen Augen: Die Bilder zerfallen, werden bedrückend, mit großen, schwarzen Gesichtern hinter Eisenstangen – das heißt, wir sehen jetzt die Verrücktheit des Direktors. Und dann bricht das Chaos aus. Immerhin findet eine Revolution statt, die Unterschicht probt den Aufstand und bricht aus dem Gefängnis aus. Jeder, wirklich jeder in diesem Film hat seinen Dämon, deshalb die Atmosphäre von Neurose und Gefahr. Selbst der Indianer ist alles andere als ein Heiliger. Folglich haben wir alle möglichen Stile benutzt. Es ist, wie wenn man ständig die Kanäle wechselt, also gibt es mal Schwarzweiß und mal Farbe und am Anfang ein bißchen Zeichentrickfilm, weil Mickey und Mallory ja Superhelden sind. Es ist wie beim Zappen, wahllos und unberechenbar. Dieser Film ist ,zuviel Fernsehen‘, wie der Indianer sagt. Die amerikanische Kultur ist eine Kultur der Gewalt, der Aggression, der Inflation der Medien, die nur auf Dollars aus sind, eine Kultur von immer mehr Gefängnissen, mehr Bestrafung, neuen Gesetzen, mehr Polizei und noch mehr Medien, eine Kultur, geprägt von Angst, Paranoia und Terror. Die amerikanische Bevölkerung ist eine Geisel dieses Konzepts der Angst, die längst nicht mehr kulturell oder sozial bedingt ist, sondern eine politische Angst, ein politische Bewegung. Diese Angst prägt die gesamte amerikanische Gegenwart. Für mich persönlich begann es mit dem Vietnamkrieg, jetzt, in den 90er Jahren, ist es noch schlimmer geworden.

Abgesehen von der persönlichen Vorgeschichte wird die Ursache der Gewalt von Mickey und Mallory für mich in der Szene im Motelzimmer sichtbar. Sie schlafen miteinander, wechseln belanglose Sätze, im Fernsehen läuft ein brutaler Film, und durch das Fenster bricht das gesamte 20. Jahrhundert herein. Bilder von Hitler und Stalin, von Umweltzerstörung, Armenien, Vietnam, von Völkermorden. Der Völkermord ist die vorherrschende Gewalt dieses Jahrhunderts. Diese Bilder starren auf Mickey und Mallory. Im Grunde sind die beiden nichts weiter als die verdorbene Frucht des 20. Jahrhunderts. Die Katharsis in ,Natural Born Killers‘ ähnelt weniger der Katharsis bei Sam Peckinpah als der bei Kubricks ,Clockwork Orange‘. Ihr Charakter verändert sich, sie kommen ins Gefängnis, Mickey spricht mit dem Journalisten über die Omnipräsenz der Gewalt und der Aggression, über die Philosophie, die allem zugrunde liegt. Und er setzt die Hoffnung auf die Liebe dagegen. Er sagt: Mallory hat mich zur Liebe bekehrt, die Liebe besiegt den Dämon. Ich glaube daran. Ich glaube nicht, daß sie wieder morden werden. Manche sehen den Filmschluß sarkastischer. Sie sagen, die beiden werden jetzt Mittelkläßler und Vorstadtbewohner wie alle Amerikaner. Das hieße dann, daß im Grunde alle Amerikaner Verbrecher sind. Aber für mich ist der Schluß kathartisch.

Es sollte eigentlich Tarrantinos erster Film werden, aber dann drehte er ,Reservoir Dogs‘ und hatte kein Interesse mehr an der Regie von ,Natural Born Killers‘. Wir haben uns getroffen, und ich habe gesagt, ich bin Mitte Vierzig, du bist Mitte Zwanzig, ich sehe einige Dinge anders. Deshalb haben wir etliches hinzugefügt, zum Beispiel über die Eltern und die Herkunft von Mickey und Mallory, die Indianergeschichte usw. Tarrantinos Geschichte handelte mehr von dem Sensationsjournalisten, sie war eine Satire über die Medien. Uns hat mehr die Staatsgewalt interessiert, das Gefängnis oder auch der perverse Polizist. Man kann uns durchaus vorwerfen, daß wir den Stoff sozialer und politischer verstanden haben. Im Film geht die Gewalt vom Staat aus und kehrt am Ende in den Naturzustand zurück. Die Gewalt ist wirklich omnipräsent. Sie bricht überall aus, und wir mögen es, wenn sie ausbricht, man denke nur an O.J. Simpson. Der Film handelt von der Kenntnisnahme des Dämons.

Ob Europäer diesen Film verstehen können? Die Italiener leben ähnlich mit dem Fernsehen wie die Amerikaner. Gleichzeitig ist es das Land von Sergio Leone, der in seinen Western mit der Übertreibung, dem bigger than life, angefangen hat. Vielleicht schalten sie eines Tages den Fernseher einfach ab und entkommen so dem täglichen Bombardement von Terror und Horrornews.“

Auf einer Pressekonferenz in Venedig. Übersetzung und Zusammenschnitt: Christiane Peitz.

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