■ Daumenkino: Eves letzter Gentleman
Merkwürdiges Timing. An den Kalten Krieg hat man nur noch lauwarme Erinnerungen. Da kommt ein Film mit einer Familie, die sich 1962 auf dem Höhepunkt der Kubakrise in ihren Atombunker flüchtet. Der Wissenschaftler Calvin Webber (Christopher Walken) hat vorgesorgt: Vorräte für ein halbes Leben sind in seinem Keller-Privatsupermarkt erhältlich. Sogar eine Terrasse mit hübscher Aussicht auf eine Landschaftswandtapete gibt's. Um nicht in Versuchung zu geraten, vor Ablauf der Halbwertszeit an die Erdoberfläche zurückzukehren, hat der Bunkerherr den großen GAU-Hebel umgelegt. Der Ausgang ist unwiderruflich gesperrt. Leider gleich für 35 Jahre.
Trotzdem herrscht beste Hula-Hoop-Stimmung, immerhin ist man knapp der Verstrahlung entgangen. Da Frau Webber schwanger abgetaucht ist, bekommt sie ihren Sohn eben im Bunker. Kein Problem. Klein Adam wächst eigentlich ziemlich normal auf. Papa unterrichtet ihn vormittags in Latein und Französisch, nachmittags wird getanzt zu Perry Como. Da Adam die Vergnügen der Erdoberfläche nicht kennt, vermisst er sie auch nicht. Für ihn dauern die Sixties eben dreimal so lang wie für andere. Dabei ist es gruselig schön anzusehen, wie Walkens Gesicht von faltenfrei auf knitterig (de)maskiert wird.
In der Erdmännchenwelt lassen sich family values ebenso konservieren wie Russenangst und Baseballhelden, die „oben“ längst nicht mehr spielen. Die Sechziger als geschmackloses Stilpanoptikum, in dessen völliger Abgeschiedenheit man sich wie daheim und komischerweise auch wohl fühlt. Adam ist brav, und bald sind es ja auch nur noch ein paar lumpige Jahre, dann ist man schon wieder draußen im Alltag. Und: Will man da wirklich leben?
Dass das Haus der Webbers „nur“ von einer konventionellen Rakete getroffen wurde und die USA kein atomisierter Mikrobenstaat sind, wissen sie nicht. Ihre Hood hat sich dennoch gravierend verändert. Als Vater in Gasmaske und ABC-Anzug aus seiner Atomgruft steigt, ist sein Vorgarten längst eine abgefuckte Vorstadtkneipe. Der Hippie, der den Laden führt, ist auf dem Esotrip und hält den Maskenmann für einen neuen Messias. Auf der Straße sieht Paps tatsächlich Aliens: Sie sind wie Menschen verkleidet, aber ihre Haut ist schwarz. Vom Atomblitz?
Adams spätpubertäres, aber höfliches Auftauchen in der Damenwelt gerät zum großen Hit. Aber zunächst bewahrt ihn seine Eve davor, seine mittlerweile irre wertvollen Baseballsammelbildchen zu verramschen. Schließlich wird ein Traum wahr: Die Welt ist exakt so hübsch wie auf der Wandtapete im Bunker. Andreas Becker ‚/B‘„Eve und der letzte Gentleman“. Regie: Hugh Wilson. Mit Brendan Fraser, Christopher Walken, Sissy Spacek, Alicia Silverstone, u. a. USA 98, 104 Min.
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