Das war die Woche in Berlin I: Das Gefühl will ihn verurteilen
Ein Mann schubst eine 20-Jährige vor eine einfahrende U-Bahn. Die Frau stirbt, der Mann wird in die Psychiatrie eingewiesen. Was folgt daraus?
Es ist ein absolut eindeutiges Urteil – das zugleich maximal unbefriedigend ist. Schuldunfähig aufgrund einer Psychose, befand das Landgericht Berlin am Dienstag über den Mann, der im Januar eine junge Frau vor eine U-Bahn gestoßen hatte.
Der Fall sorgte für Aufsehen: Ein junger Mann schubst am Abend des 19. Januar im U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz eine Frau vor die einfahrende U2. Die 20-Jährige ist sofort tot. Täter und Opfer kennen sich nicht, ein erstes ärztliches Gutachten spricht von einer „erheblich geminderten bis aufgehobenen Schuldfähigkeit“ des Mannes. Das Landgericht hat diese Einschätzung nun bestätigt. Der 29-Jährige wird „dauerhaft“ in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.
Nun mag der Verstand dem Mann Schuldunfähigkeit attestieren, das Gefühl will ihn verurteilen: Der Mann hat geschubst, die Frau ist tot, also ist der Mann schuld. Für das Bauchgefühl wäre es leichter, irgendwelche seelischen Abgründe in der Motivation des Täters zu akzeptieren – denn die könnte man bestrafen – als den Umstand, dass man nicht strafen kann, weil niemand schuld ist.
Man könnte versucht sein, den Psychiatern einer Hamburger Klinik die Schuld zu geben. Die entließen den Mann, der bereits jahrelang wegen psychischer Probleme in Behandlung war, kurz vor seiner Tat „wegen fehlender Behandlungsgrundlage“. Ein ärztlicher Fehler? Das sagt sich leicht, beurteilen müsste das ein Gericht. Und der Gedanke, der da mitschwingt, potenziell gefährliche Menschen möglichst für immer wegzusperren, ist unheimlich.
Aber Unzurechnungsfähigkeit ist eben auch unheimlich. Weil man vorgehalten bekommt, was jeder eigentlich weiß, aber immer gern vergessen will: Man kann völlig sinnlos sterben – und die Überwachungskameras auf den U-Bahnsteigen können das lediglich festhalten, aber nicht verhindern.
Ein Kollege sagt, er positioniere sich auf Bahnsteigen nun immer der Nähe von Personen, von denen er glaubt, dass von ihnen bestimmt keine Gefahr ausgeht: Kinder, Senioren. Praktische Überlebenstipps für den Großstadtalltag – ist das alles, was einem bleibt?
Ja, man kann vor eine U-Bahn geschubst werden. Man kann auch vom Blitz erschlagen werden. Und die Wahrscheinlichkeit ist vermutlich genauso klein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut