: Das unsolide Monument
Endlich erscheinen auf Deutsch David Cannadines elegante und scharfsinnige Essays über Winston Churchill, der ein großer Redner und ein hervorragender Schweiger war
von ANDREW JAMES JOHNSTON
Anfang Mai 1940 erlitt das britische Establishment eine seiner größten Niederlagen. Deutschland überrannte Dänemark und Norwegen. Ein britischer Gegenangriff scheiterte kläglich. In England breitete sich Unmut aus, der konservative Premier Chamberlain bekam im Unterhaus heftige Vorwürfe zu hören und Teile seiner Partei rebellierten. Eine Koalitionsregierung lag in der Luft. Labour und Liberale weigerten sich jedoch, in ein von Chamberlain geführtes Kabinett einzutreten. Damit war klar, dass der Premierminister gehen musste. Wer aber sollte ihm folgen?
Der Kandidat des Establishments, also der konservativen Parteiführung, der Ministerialbürokratie und des Hofes, war Außenminister Lord Halifax. Der aristokratische Großgrundbesitzer pflegte privaten Umgang mit der Königsfamilie, war intelligent, solide und hatte zudem die Appeasement-Politik mitgetragen, ohne zu sehr mit ihr identifiziert zu werden.
Lord Beaverbrook hingegen unterstützte mit seinen Zeitungen den befreundeten Winston Churchill, der als Marineminister und Koordinator der Landesverteidigung durchaus Mitschuld am Norwegen-Desaster trug. Aber Churchill hatte vor Hitler gewarnt, als das Establishment noch glaubte, dem Deutschen den Frieden abkaufen zu können.
Am Nachmittag des 9. Mai bat Chamberlain den konservativen Fraktionsführer David Margesson, Halifax und Churchill zu sich, um die Nachfolgefrage zu erörtern. Margesson schlug wie erwartet Halifax vor. Churchill schwieg und schwieg – und schwieg: ganze zwei Minuten lang. Den Anwesenden dämmerte, dass er sie in der Hand hatte. Weigerte er sich, einer Regierung Halifax beizutreten, würde das Kabinett in einem Sturm der Entrüstung untergehen.
Man kam an Churchill nicht mehr vorbei, dem einstigen Spitzenpolitiker, den das Establishment in der Dekade vor dem Krieg in die politische Wüste verbannt hatte. Halifax brach das Schweigen und verzichtete. Chamberlain fuhr in den Buckingham-Palast und empfahl Churchill als neuen Premier. Georg VI. lehnte entschieden ab und musste erst an seine verfassungsmäßige Rolle erinnert werden, bevor er Churchill berief.
Es zählt zu den Ironien der englischen Geschichte, dass ein Mann, der nicht zuletzt für seine großen Reden berühmt ist, einen seiner wichtigsten Siege durch Schweigen errang. Denn bevor er Hitler bezwang, musste Churchill erst das heimische Establishment besiegen. Für die politisch tonangebenden Kreise war Churchill ein unberechenbarer Hasardeur, ein egozentrischer Einzelgänger, skrupellos und illoyal, ein Mann, der zu viel trank und sich an seiner eigenen Rhetorik berauschte. Typisch für diese Sicht ist das Bild, das ein Politikerkollege zeichnete: Bei Winstons Geburt hätten ihm die Feen ein Übermaß an Talenten in die Wiege gelegt. Damit er jedoch nicht zu viel bekäme, hätte ihm eine der Feen zwei Gaben wieder weggenommen: die Klugheit und das Urteilsvermögen!
Dies sind die Probleme, denen sich der englische Historiker David Cannadine in drei faszinierenden biografischen Essays widmet. Die Themen der Aufsätze sind Churchills aristokratische Prägung, sein Verhältnis zur Monarchie und seine Rhetorik. Sie sind klug gewählt, denn sie illustrieren perfekt die Ambivalenz, die sich offenbart, sobald man hinter die monumentale Fassade des Churchill’schen Mythos blickt.
Das Zwielichtige, das Churchill, einem Enkel des Herzogs von Marlborough, anhaftete, erklärt Cannadine überzeugend aus der Unsicherheit eines im Abstieg begriffenen Adels, dem es zunehmend an der materiellen Basis wie an einer gesellschaftlichen Rolle fehlte, dessen Repräsentanten jedoch unfähig waren, sich in eine bürgerliche Existenz zu schicken. Churchills Beziehung zur britischen Krone zeigt indes die versponnen-romantische Seite seines politischen Koordinatensystems, die viele Zeitgenossen nur mit Kopfschütteln quittierten.
Als Redner beeindruckte Churchill zwar durch seine ungeheure Sprachgewalt, durch die klassischen Perioden und den beinahe Shakespeareschen Rhythmus seiner Sätze, jedoch rief gerade diese Grandiosität oft einen leicht peinlichen Effekt hervor. Zudem war Churchill nie ein wirklicher Debattenredner. Er ließ seine Monologe vom Stapel und verschwand meist gleich nach seinem Auftritt. Was die anderen zu sagen hatten, interessierte ihn nicht.
Diese Facetten von Churchills Persönlichkeit arbeitet Cannadine wunderbar heraus und bettet sie elegant in den Kontext ihrer Zeit ein. Das ist Biografik, wie sie besser nicht sein könnte: narrativ, detailreich und trotzdem von großer analytischer Schärfe. Es ist das Verdienst des Berenberg-Verlags, dem deutschen Publikum diese glanzvollen Essays zugänglich gemacht zu haben. Allerdings ist Vorsicht geboten: Zum einen setzt das Vergnügen dieser Lektüre gewisse Kenntnisse voraus. Genießen kann das Buch nur, wer zumindest mit den Grundzügen von Churchills Leben und Karriere vertraut ist. Zum anderen muss man dem Verlag vorwerfen, sich nicht um eine angemessene Übersetzung und Kommentierung bemüht zu haben.
Neben stilistischen Holprigkeiten und unnötigen Anglizismen finden sich diverse Fehler, so zum Beispiel, die wiederholte Behauptung, Churchill sei als junger Mann „Unteroffizier“ gewesen. Auch hätte man sich gewünscht, dass Begriffe und Persönlichkeiten, die einem historisch gebildeten Engländer selbstverständlich sind, für die deutschen Leser erklärt würden. In den wenigen Fällen, in denen das geschieht, kann man den Fußnoten leider nicht immer trauen. So verwechselt eine Anmerkung den älteren Pitt mit dem jüngeren. Hier wäre es besser gewesen, wenn sich der Übersetzer den Churchill aus jener denkwürdigen Sitzung vom 9. Mai 1940 zum Vorbild genommen und einfach geschwiegen hätte.
David Cannadine: „Winston Churchill. Abenteurer, Monarchist, Staatsmann“, aus dem Englischen von Matthias Wolf, Berenberg Verlag, Berlin 2005, 190 Seiten, 18 Euro