Armin Petras‘ Stück „Learning Europe“ mit internationaler Besetzung wird am Thalia Theater uraufgeführt : Das unerträgliche Geschrei des Nachbarn
Es geht nicht nur um laue Nachbarschaft. Sondern um einen – angesichts der politisch gesetzten Koordinaten nötigen – echten Zusammenhalt: Learning Europe heißt das vom Regisseur und Autor Armin Petras verfasste Stück, das – im Rahmen des „Refugee“-Projekts der Europäischen Theater Convention (ETC) – jetzt am Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt wird.
Sechs Regisseure aus den ETC-Mitgliedsländern Litauen, Slowenien, der Slowakischen Republik, Luxemburg, Österreich und Deutschland haben sich der 19 von Petras gestellten „Aufgaben“ angenommen. Kurze Szenen zu Themen wie „Mythos Europa“, „Kochen für einen Migranten“ oder „Liebe und Hass“ sollen die Teams ersinnen; nach der Hamburger Uraufführung wird das Stück – für je drei Abende – in den übrigen Ländern gespielt. Fünf der beteiligten Gruppen sollen dabei gleichzeitig auf der Bühne sein, während das Team des Gastgeberlandes moderiert.
Konzentration ist Pflicht bei den Tanz-, Video- und Schauspielszenen, die nur wenige Minuten dauern und ein Patchwork aus scheinbar unverbundenen Themen bilden: Die slowakische Klage über verstorbene, im eigenen Land zu Unrecht vergessene Schauspieler steht neben einem Lamento über Luxemburger Börsenkurse, Schweigen neben Geschrei. Jeweils drei Szenen sind parallel zu sehen. „Es ist schon während der Proben schwer, die unterschiedlichen Zugänge der Ost- und Westeuropäer – Pathos versus Ironie – zu ertragen“, sagt Patrick Lančarič vom Slowakischen Nationaltheater Bratislava.
Eine Verschiedenheit, die „vermutlich viel mit der Geschichte und der politischen Vergangenheit der einzelnen Länder zu tun hat“, vermutet die Luxemburger Autorin und Regisseurin Beryl Koltz. Und hier sieht Lančarič eine „nur durch wechselseitigen Respekt“ zu überwindende Kluft, die sich auch Brüsseler EU-Verhandlungstisch öffnet. Denn real zu ertragen, was durch unterschiedliche Sozialisierung entstand, wirkt nur auf dem Papier leicht; auch das vom hiesigen Literaturhaus und der Körber-Stiftung initiierte Projekt „Europa schreibt“ im Januar 2003 offenbarte das Auseinanderklaffen osteuropäischer Visionen und westeuropäischer Gelangweiltheit.
Als dezidiert politisches Theater lässt sich daher bezeichnen, was ETC und Körber-Stiftung ins Leben gerufen haben. Denn keine heile Welt wird wohl Resultat der Proben sein, Annäherung und fröhlich-unbedarfte Multikulti-Nachbarschaft nicht explizites Ziel. Unerträglichkeiten erzwungenen Miteinanders werden vielmehr im Zentrum der Inszenierung stehen, durchsetzt vom Erstaunen darüber, wen man plötzlich in enger Nachbarschaft vorfindet. „Da kommen Verhaltensmuster zusammen, deren Verschiedenheit man nicht einmal geahnt hat. Leute wohnen neben einem, die Dinge tun, die man weder versteht noch gutheißt und die auch ganz konkret stören. Einer will still sein, einer laut; was soll man also tun?“, fragt André Turnheim, Gastregisseur am Schauspiel Frankfurt. Sich um der Gruppenharmonie willen aufgeben? Die eigene Identität doppelt laut hinausschreien? Die Uraufführung wird es zeigen. Petra Schellen
Premiere: Fr, 2.4. Weitere (und einzige Hamburger) Aufführungen: 3.+4.4., jeweils 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße