: Das richtige Buch, der falsche Autor?
Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“ schlug in der damaligen DDR keine hohen Wellen ■ Von Martin Woldt
Im 1995 erschienenen Buch „Der Wendehals“ schildert Volker Braun eingangs eine Episode im Zug. Der Erzähler trifft zwei bekannte, inzwischen aber abgewickelte DDR-Philosophen, die ihren Karriereverlauf beklagen.
Sie müssen sich die Frage gefallen lassen: „Warum habt ihr nicht nachgedacht als ihr noch installierte Denker wart? – Das haben wir, erwiderten sie, wir haben alles erkannt, uns war die Misere bewußt. Wir haben das schriftlich niedergelegt.
– Aber es war doch nie zu lesen? – Ja, wie denn auch? In einem Buch, wie es Bahro schrieb? Das schmiert man in vier Wochen zusammen ... Man hat nicht auf uns gehört. Wir waren nicht zuständig, Freund! (O gewiß).“
Kurz darauf trifft der Erzähler Rudolf Bahro auf einem Bahnhof und befragt ihn nach seinem Gepäck. „Ja, sagte der berühmte Rebell, da sind die Kissen drin für die Meditation.“
Die Sympathien sind klar verteilt, und das verwundert nicht. Braun gilt als einer derjenigen, die in der DDR trotzig den Impuls von Bahros „Die Alternative“ aufnahmen. Stücke wie „Großer Frieden“ lassen sich so verstehen. Doch das ist keineswegs die mehrheitliche Haltung der DDR-Intellektuellen Ende der siebziger Jahre.
Während das Buch im Westen eine Bestsellerauflage von etwa 300.000 Exemplaren erreichte, blieb die Reaktion im Innern der DDR abwartend kühl.
Zu fragen ist, warum Rudolf Bahros Buch zu keinem Zeitpunkt eine Wirkung erreichte, die mit der der Ereignisse um die ein Jahr zuvor erfolgte Ausbürgerung Wolf Biermanns auch nur annähernd vergleichbar wäre.
Es gibt die schnellen Antworten. Während „Die Alternative“ nur in wenigen Abschriften kursierte, waren Biermann-Mitschnitte auf beinahe jeder privaten Feier zu hören, war sein Konzert in Köln auch in der DDR ein Medienereignis. Bahro hingegen paßte irgendwie in das veröffentliche Agentenbild: konspiratives Buch, konspirative Interviews mit ARD und ZDF, Vorveröffentlichung im Spiegel, Erscheinen des Buches wenig später in Köln. Wer kannte in der DDR einen solchen Einzelkämpfer?
Die einfache Retrospektive verstellt die Sicht auf die eigentlichen Vorgänge. Viel intensiver als Biermann knüpft Bahro mit seiner Kritik an die abgewürgten SED- Reformdiskussionen der sechziger Jahre an. Historische Erschütterungen werden zum Auslöser.
Viele SED-Intellektuelle erleben die Niederschlagung des Prager Frühlings einerseits als Schock für die gerade mühsam erworbenen sozialistischen Ideale. Andererseits verdrängt diese neurekrutierte Elite das Ereignis schleunigst als historische Panne. Massenhaft ist man in den zurückliegenden Jahren in verantwortungsvolle Positionen gelangt. Dank der SED- Mitgliedschaft. Die Partei hat recht.
Bahro aber hat längst das Glasperlenspiel um die Macht als Selbstzweck durchschaut. Für ihn ist das Jahr 1968 ein Signal, um „nun eine Antwort zu liefern, gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen ihre Panzer“. Der Frühling von Prag soll vor allem eine Hoffnung bleiben.
In den siebziger Jahren wird Walter Ulbricht abgelöst, und Erich Honecker enttäuscht sehr schnell alle Erwartungen. Insbesondere die der Wirtschaftler in Theorie und Praxis. Mehr und mehr erleben sie die SED als Verhinderer einer effizienteren Ökonomie. Wer besser wirtschaften wollte, würde wohl den Hebel bei denen ansetzen, die bezahlt werden, aber nichts für das Betriebsergebnis tun. Das sind an erster Stelle die allmächtigen Partei-, Gewerkschafts- und FDJ-Organisationen in den Betrieben.
Auch Bahro hat das Problem erkannt. Genau diese staatssozialistischen Eliten trifft sein Vorschlag: Weniger Bürokratie, mehr Mitbestimmung. Den Sachwaltern der Macht gehen solche Vorschläge viel zuweit. Aber, geht Bahro mit der „Alternativen“ wirklich weit genug?
Peter Ruben, Philosoph und unter den DDR-Denkern wiederholt als Versöhnler und Revisionist abgekanzelt, ist überzeugt: „Bahro konnte sein Buch nur schreiben, weil er kein Ökonom war: „Geht er doch davon aus, daß Reformen möglich sind.“ Unter den Wirtschaftlern sei aber mehr oder weniger klar gewesen, daß als einzig sinnvolle Reformrichtung nur die Reproduktion des Privateigentums in Frage kam. Nur diese garantiere die notwendigen Erneuerungen. Aber da war Marx vor.
Zu diesem Tabubruch fand sich niemand bereit. Der Preis für dieses Sakrileg wäre die Delegitimierung der Oktoberrevolution gewesen. Stets galt der kommunistischen Bewegung das Privateigentum als die Wurzel allen Übels dieser Welt.
Für einen Moment stelle man sich vor, „Die Alternative“ wäre Alexander Schalck-Golodkowski aus der Feder geflossen.
Welche revolutionäre kommerzielle Koordinierung hätte sich in der DDR durchsetzen können! Weil Alexander Schalck-Golodkowski aber für ein Buch nie zwei Jahre Gefängnis in Bautzen riskiert hätte, war Rudolf Bahro die einzige Alternative, die die DDR je hatte.
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