: Das letzte Refugium steht auf dem Spiel
■ Jugendklubs in Hohenschönhausen bangen um ihre Existenz/ Freizeit zwischen »Drei- und Sechsgeschossigen«
»Erst geradeaus, dann zwischen den Dreigeschossigen durch und bei den Sechsgeschossigen links«, erklärt die Zeitungsverkäuferin den Weg durch das Ostberliner Neubaugebiet — vom S-Bahnhof Hohenschönhausen zum Rotkamp. Eine Überraschung bietet hier das Innere des Dienstleistungswürfels am Rotkamp. Ein Platz mit menschlichen Dimensionen, umgeben von niedrigen Geschäftsgebäuden. Unter ein paar dünnen Bäumchen haben die Jugendlichen in der Mitte des Platzes einen Tisch aufgestellt. Eine ältere Dame beugt sich über die Unterschriftenliste. »Gegen die Treuhand? Unterschreib' ich sofort. Meinen Betrieb machen sie auch dicht. Ab Montag bin ich arbeitslos«, sagt sie und nimmt den Kugelschreiber entgegen. Sandra, 15, bittet bereits den nächsten Passanten um seine Unterschrift.
Erste Reaktion: alles kurz und klein schlagen
Angefangen hat alles vor zwei Wochen: »Abends um halb sieben rief das Bezirksamt an: ‘Leute, es ist soweit‚«, erzählt Karin Volkert, Leiterin des Jugendklubs am Rotkamp. Die Treuhand hat die Ostberliner Dienstleistungswürfel zum Verkauf ausgeschrieben. Doch neben Kaufhalle und Wolläden ist in 24 dieser Würfel auch jeweils ein Jugendklub untergebracht. Der Rausschmiß schien unmittelbar bevorzustehen. »Die erste Reaktion der Jugendlichen war: Wir schlagen hier alles kurz und klein. Es war eine ziemlich aggressive Stimmung«, erzählt Karin.
In Hohenschönhausen sind fünf von neun Klubs von dem Verkauf der Dienstleistungswürfel betroffen. Inzwischen haben zwar Innensenator Krüger und Finanzsenator Meisner versprochen, daß die Jugendklubs erhalten bleiben, doch Karin ist skeptisch: »Selbst wenn die Treuhand die Dienstleistungswürfel mit der Auflage verkauft, daß die Klubs erhalten bleiben müssen, nützt uns das wenig. Die Mieten werden steigen und jedes Spucken über die Balustrade endet im Gerichtssaal.« Die betroffenen Klubs sammeln an diesem »Aktionstag« Unterschriften gegen die befürchtete Schließung.
Es fängt an zu regnen. Sandra und ihre vier Mitstreiter sammeln die Listen ein und schleppen den Tisch nach oben in den Klub. Wohin gehen sie sonst noch? »Ins Café Kontakt oder in die Bartherstraße«, zählt Sandra die Ausweichmöglichkeiten auf. In der Bartherstraße trifft man sich in einer Mehrzweckgaststätte. Sandras Freundin hat inzwischen die Unterschriften gezählt: 392 Leute haben unterschrieben. Am nächsten Tag wollen sie in der Schule weitersammeln. Sehr viele Jugendliche seien heute nicht da. »Im Sommer ist es nie so voll wie im Winter. Und im Herbst werden viele Schulabgänger arbeitslos sein. Der Klub ist dann ihr letztes Refugium«, sagt Karin.
Mehrzweckgaststätte als Ausweichmöglichkeit
Wie können drei Räume in einem Dienstleistungswürfel, umgeben von »Sechsgeschossigen«, das letzte Refugium von irgend jemandem sein? Wieso fahren die Jugendlichen nicht raus aus Hohenschönhausen? Inzwischen ist Martina Ewald, Leiterin des Klubs in der Welsestraße, dazugestoßen. Bei ihnen sei am nächsten Abend Diskothek: »Dann ist es voll.«
Tatsächlich drängeln sich bereits um 20 Uhr die Leute in der Welse. Martinas Mitarbeiter Stephan steht an der Tür und begrüßt jeden der hereinkommt mit Namen und Handschlag. Drinnen tanzen die Kids zu den Eurythmics: Sweet dreams are made of this.
Repertoire männlicher Folklore
Ein süßer Traum ist der Jugendklub nicht gerade, aber der einzige Treffpunkt in der Umgebung. Ucki, 19, gibt an der Garderobe die Marken aus und kassiert 1 Mark Eintritt. Er flirtet mit den Mädchen und begrüßt die Jungs mit den üblichen Gesten aus dem Repertoire männlicher Folklore: hartes auf-die-Schulter- klopfen, angedeutete Faustschläge Richtung Nasenbein und Willkommensgrüße wie: »Hey, wie gehts dir, alte Socke?« Dazwischen erzählt er vom gestrigen Aktionstag und warum er sein Haar heute en nature trägt: »Es dauert fast eine Stunde bis der flat-top richtig steht. Dazu war ich heute zu faul.«
Um 21 Uhr sind die Eintrittskarten weg. Der Rest darf umsonst rein. Ein Mädchen begrüßt Ucki mit gesenkten Augen. Der Lidstrich ist perfekt. Dann schlägt sie die Augen auf, erst jetzt sieht man die geplatzten Äderchen. Sie hatte einen Autounfall und ist erst seit ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Minutiös schildert sie, wie ihre Mutter von der Polizei benachrichtigt und zum Krankenhaus gefahren worden ist, während Ucki mitfühlende Laute von sich gibt. Dann geht sie rein, um ihre Freunde zu suchen. Wie war nur der Aktionstag? »Ja, wir haben kleine Tische nach draußen gestellt und Musik angemacht und Bier getrunken. Die Leute sollten mal sehen, wie das ist, wenn Jugendliche auf der Straße stehen«, schildert Ucki den Vortag. Die meisten Leute hätten Verständnis für die Aktion gehabt. Zu dumm, daß sie nicht ans Unterschriftensammeln gedacht hätten: »Wir hätten bestimmt mehr zusammenbekommen als der Rotkamp.«
Gegen Abend verließ einen Anwohner das Verständnis für die Aktivisten. Er rief die Polizei, die dem Dies-ist-die-Zukunft-Treiben ein Ende setzte.
Zwei Alternativen für die Zukunft
Investoren, Treuhand und Senat verhandeln derzeit über zwei Alternativen zur Erhaltung der Jugendklubs: Entweder verpachtet das Land als Grundstückseigentümer die Dienstleistungswürfel und sichert gleichzeitig die Jugendklubs; oder die Würfel werden zusammen mit dem Grundstück verkauft, wobei sich der Investor verpflichten muß, neue Klubs zu bauen. »Dann bin ich wahrscheinlich zu alt um noch in einen Jugendklub zu gehen«, wendet ein Fünfzehnjähriger in der Diskothek gegen die zweite Möglichkeit ein.
Martina schenkt hinter der Bar Softdrinks und Kaffee aus. Früher wurde auch Alkohol verkauft: »Das Geld hat der Staat dann abkassiert.« Ärger mit Banden gebe es nur selten. Am einzigen Treffpunkt der Umgebung mischt sich zwangsläufig alles: Rechte und Linke, Rapper, Psychos und Cybers. Außerdem: »Man kloppt sich nicht so leicht, wenn man schon zusammen in die Grundschule gegangen ist«, sagt Stephan. Sie kommen gut klar mit ihren Kids, sagen sie. Auch wenn es hin und wieder Probleme gibt. Einen Kondomautomaten mußten sie wieder abnehmen, weil er ständig aufgebrochen und das Geld geklaut wurde.
Mehr Kriminalität, wenn die Klubs geschlossen würden
Draußen vor der Tür verkünden drei Jugendliche, sie fänden es »voll Scheiße«, wenn der Klub zumachen müsse: »Dann gibt's hier nichts mehr und die Kriminalität steigt.« Wieso? Würde er Autos knacken gehen, wenn der Klub dichtmacht? »Nee, von mir hab ich ja nicht geredet.« »Von mir hoffentlich auch nicht«, knurrt sein Freund und beide drehen sich zu dem dritten um und schreien: »Wir reden von ihm!« Fahren sie manchmal heraus aus Hohenschönhausen? Der potentielle Autoknacker schüttelt den Kopf: »Am Alex wirst du nur verprügelt.« Von wem? »Von den Rechten«, sagt er. »Oder von den Linken.« Hier kennt man wenigstens die Leute, von denen man verprügelt wird. Anja Seeliger
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