: Das kleine Einmaleins der Huren
■ Mit „Der Wunschtraum“endet heute abend die Metropolis-Reihe über die frühen Filme von Roberto Rossellini
Selbstmord ist immer Symptom der Verzweiflung und nicht ihre Ursache. Normalerweise. Bei Paola (Elly Parvo), die sich in Rom als Dirne durchschlägt, liegt der Fall anders. Der Selbstmord einer Freudin steht bei ihr am Anfang einer Entwicklung, an deren Ende sie selbst keinen anderen Ausweg mehr weiß. Zuvor versucht sie, ihr Leben umzukrempeln. Sie träumt von einer Existenz mit einem Blumenzüchter, fürchtet jedoch, daß ihre Vergagenheit sie einholen könnte. Deshalb verläßt sie die Stadt und kommt zur Familie aufs Land zurück. Aber ihr Vater will nichts mehr von ihr wissen, und der Schwager bedrängt sie.
Bereits mit Der Mann des Kreuzes hatte Roberto Rossellini seine Funktion als Kriegspropaganda-Regisseur aufgekündigt. Der Krieg hatte seine Faszination eingebüßt, und übriggeblieben war allein ein Tableau des Schreckens. In Der Wunschtraum (1943/45) kommt der Krieg nicht einmal als Hintergrundgeschehen vor – was angesichts der Entstehungszeit nur als „Wunschtraum“des Regisseurs verstanden werden kann. Das Politikum des Films ist das Fehlen jedes Bezugs aufs Zeitgeschehen. Der staatlichen Propaganda ist das private Psychodrama gewichen.
Jenseits aller filmhistorischen Bedeutung überrascht Der Wunschtraum durch seine klare Erzählweise. Immerhin steht die Geschichte einer Prostituierten, die gegen ihren Willen auf ihre Rolle festgelegt wird, immer in der Gefahr, zu einer Anhäufung von Klischees zu werden. Aber Rossellini übersteht diese Gefahr, indem er mitten durch sie hindurchgeht. Seine Gegenüberstellungen von Großstadttreiben und Landleben entstammen zwar einer Schablonen-Soziologie, aber mit dem Trick, die Kamera immer wieder auf Distanz zu bringen, hält er auch selbst Abstand von abgenutzten Stereotypen. Auch bei den Dialogen findet Rossellini das richtige Timing. Wenn Paolas Freundin das kleine Einmaleins der Hurenmoral herunterbetet – liebe niemals deinen Freier! – bekommt das eine unaufdringliche Beiläufigkeit.
Joachim Dicks
21.15 Uhr, Metropolis (OmÜb)
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