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Archiv-Artikel

Das große Erwachen

Von einem, der auszieht, das Glück in der großen, morbiden Stadt zu suchen: der Coming-of-Age-Roman „Der Gott der Alpträume“ von Paula Fox

VON SUSANNE MESSMER

Dies ist Paula Fox’ bislang stimmigstes und schönstes Buch. Schon 1990 in den USA erschienen, wurde es unverständlicherweise erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Man kann sich schon nach den ersten Zeilen kaum mehr losreißen von diesem Wunder an Plastizität, Eloquenz und Ideenreichtum, man versucht vor lauter Angst vor dem schnellen Ende, schön brav zu sein, langsam zu lesen, keinen einzigen der Sätze zu verpassen, die die oft gelesene Erzählung des In-die-Welt-Kommens umranken und wunderbare Verschiebungen im Kopf erzeugen.

Die Atemlosigkeit, die einen beim Lesen befällt, kommt von der atemlosen Sprache, die das atemlose Thema antreibt: Helen, die sympathischste aller Heldinnen von Paula Fox. Ihre Coming-of-Age-Geschichte in New Orleans lässt sie völlig aus der Puste geraten. Hier, in dieser Stadt, die intensiv nach „Pfirsichen und unbekannten Blumen und ganz entfernt nach etwas Brackigem“ duftet, in der es so schwül ist, dass die Heldin immer wieder nach Luft schnappen muss, hier wird sie auf einen Schlag aus dem Dornröschenschlaf ihrer verstrickten Jugend geküsst, hier treten gleich mehrere Personen in ihr Leben, in die sie sich allesamt ganz plötzlich verliebt. So entsteht einen Sommer lang das perfekte Nest, eine utopische Gemeinschaft, wie sie nur möglich ist, wenn ihre Mitglieder insgeheim auch wissen, dass sie nicht von Dauer sein wird.

Aber jetzt von Anfang an: Helen ist in der schwierigsten Familienkonstellation aufgewachsen, die man sich denken kann. In den Dreißigerjahren auf dem Land ist sie die einzige Tochter einer sitzen gelassenen Mutter, die sich von diesem Verlust nicht mehr erholen wird, auch wenn sie so tut, als ob. Je militärischer die Mutter an ihrem Optimismus und an ihrer Heiterkeit feilt, desto ohnmächtiger, lethargischer und müder wird die Tochter. Die Jahre verstreichen, es scheint kein Entkommen möglich, bis die Mutter endlich die Nachricht vom Todes ihres Ehemanns bekommt. Endlich kann sie die Tochter, „einen Talisman, der garantieren sollte, dass der Vater am Ende zu ihr zurückkehrte“, ziehen lassen. Eine ganze Woche lang irrt Helen durch die Straßen von New Orleans und sinkt nachts auf dem Hotelbett in Schlaf, „bevor ich mich ausgezogen hatte, und in der Morgendämmerung erwachte ich und fühlte meine Kleider wie weiche Taue um mich verdreht“.

Und dann das große Erwachen. Helen ist unter einem Vorwand nach New Orleans gegangen. Sie soll die Tante, eine tief gefallene Schauspielerin, die sich gerade zu Tode säuft, überreden, zur Mutter in die Provinz zu ziehen. Für dieses Vorhaben hat Lulu bloß „lautes Gelächter“ übrig und lädt sie stattdessen ein, Teil jener Boheme zu werden, die sie gerade noch so am Leben hält. Helen sucht sich ein Zimmer bei einem kochenden Dichter und seiner schönen Freundin, sie sucht sich einen Job im Kaufhaus eines schwulen und schönen Dandys. Claude de la Fontaine ist einer der letzten Kreolen in der Stadt, ein Abkömmling französischer Aristokraten. Helen verliebt sich nur ein wenig in ihn, ein wenig mehr in den jungen, begehrenswerten Hausfreund ihrer versoffenen Tante und ein bisschen auch in Nina, die wie sie ausgezogen ist, das Glück zu suchen in der großen, morbiden Stadt.

Natürlich ist das noch längst nicht alles. Wie in allen Büchern der großartigen Paula Fox, auch dem Gegenstück „Kalifornische Jahre“, in dem eine junge Frau eben nicht so recht zu sich kommen will, gibt es immer auch Geschichtsschreibung und Gesellschaftsanalyse. Diesmal hat sie, die es gar nicht nötig hat, an Erzählern wie Richard Yates oder Richard Ford gemessen zu werden, das Amerika um 1940 im Visier. Helen und Nina unterhalten sich viel über den Zweiten Weltkrieg und über Adolf Hitler. Len, der begehrenswerte Hausfreund, wartet in New Orleans auf den Einberufungsbefehl. Und über dem schönen, schwulen Dandy hängt ein Damoklesschwert, das man gar nicht benennen mag.

Vor allem aber befinden wir uns im Süden der USA, in einem Landstrich, in dem noch viel Cajun gesprochen wird, wo übelste Rassentrennung herrscht, wo aber auch Bücher schwarzer Autoren wie Richard Wright, Countee Cullen und Jean Toomer oder die „Creole Sketches“ von Lafcadio Hearn gelesen werden. So kommt es, dass Nina einmal aus einem Brunnen für Schwarze trinkt und damit einen kleinen Skandal provoziert. So kommt es auch, dass der kochende Dichter, früher einmal Arbeiter in einer Automobilfabrik, von ehemaligen Kollegen fast zu Tode geprügelt wird, weil er sie in seinen Gedichten beschrieben hat.

Am Ende dieser etwas schwärmerisch geraten Rezension muss unbedingt noch auf einen Nebengedanken aufmerksam gemacht werden: Recht häufig wird in diesem Roman für unsympathisch befunden, wer zu überzeugt ist von sich selbst. Ein befreundeter Maler etwa malt vor allem deshalb so langweilige Bilder, weil ihm nie eine Landschaft begegnet ist, die er nicht malen konnte. Es fiel ihm immer zu leicht. Für dieses leichte, beschwingte Buch hat die inzwischen 84-jährige Paula Fox, die übrigens die Großmutter von Courtney Love ist, sicher mit jedem einzelnen Satz gekämpft.

Paula Fox: „Der Gott der Alpträume“. Aus dem Amerikanischen von Susanne Röckel. C. H. Beck, München 2007, 288 Seiten, 19,90 €