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Archiv-Artikel

Das Wort zum Aschermittwoch

Historische Großideen werden nicht durch bunte Großdemonstrationen durchgesetzt DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Der rituelle Karneval aufgeklärter junger Mitglieder der kommenden Elite ist allmählich peinlich

Angesichts des transnationalen Polit-Pöbels, der keinen Unterschied mehr kennt zwischen den Autos der neuen Mitte, den Fensterscheiben abstiegsbedrohter Mittelständler und „dem System“, überfiel den Attac-Sprecher Sven Giegold „eine gewisse Ratlosigkeit“. Aber nicht nur wegen der Borderline-Blöcke ist es angebracht, nach Heiligendamm grundsätzlich über den Sinn von Protest nachzudenken.

Die soziale Bewegung muss sich fragen, wie sie in Zukunft die gigantischen Erfolge, die sie errungen hat, umsetzen will, bevor sie zerbröselt. Denn: Wenn das Ziel sozialer Bewegungen, wie Peter Wahl vom Attac-Koordinationskreis sagt, darin besteht, „das Meinungsklima der Gesellschaft zu verändern, ohne parlamentarische Vertretung anzustreben“ – dann haben sie es geschafft. Seit Seattle sind acht, seit Genua sechs Jahre vergangen, und heute ruft nicht nur Attac, sondern auch Angela Merkel nach einer Kontrolle der Hedgefonds, Bild geht eine – wenn auch verlogene – Allianz mit Greenpeace ein, die Märchenerzähler des Neoliberalismus werden in den Talkshows ausgelacht, Internationaler Währungsfonds, Weltbank und WTO sind global blamiert, und vierzig Prozent der Deutschen erwarten von der Globalisierung nichts Gutes mehr.

Die Überzeugungskraft der Verhältnisse hat dem Protest Substanz gegeben. Die Erfahrungen von Bauern in Lateinamerika, von Hartz-IV-Empfängern in Deutschland, die Erkenntnisse der Klimaforscher, die Angst vorm Abstieg in den Mittelschichten, die Exzesse der Privatisierung: das sind die erodierenden realen Böden, auf denen die „ökonomische Alphabetisierungskampagne“ bis in Mainstream-Medien und Fernsehfilme zur Primetime eingesickert ist.

Das deprimierende Alphabet ist gelernt, das Klassenziel erreicht. Nicht nur chronisch „Linke“ ahnen: Wir erleben das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Aber was heißt das? Wir haben ein Umsetzungsproblem. Der Übergang in die Oberschule steht an: die harte Arbeit, die Früchte des Aufklärungserfolgs zu ernten.

Was macht eine soziale Bewegung, wenn sie ihr Ziel – das Meinungsklima zu erwärmen – erreicht hat? Wenn die Schnitt-Gegenschnitt-Dramaturgie der globalen Berichterstattung über G-8-Gipfel – hie bemüht Gestaltungsmacht demonstrierende Weltenlenker, dort der harmlos-freundliche Karneval der Protestkulturen mit seinen hooliganesken Ausläufern – sich von Gipfel zu Gipfel immer stärker verbraucht? Wenn die Mobilisierung nur noch gelingt, indem man die Chefs der G 8 zu einer diabolischen Weltregierung des Finanzkapitals hochstilisiert, zu einer monolithischen Verschwörerbande, mit aller Macht, „über das Schicksal der Welt zu entscheiden“?

Zwischenfrage: Was wäre passiert, wie hätte die Weltöffentlichkeit, etwa in Gestalt der New York Times, wohl reagiert, wenn hunderttausend Demonstranten die Position von Angela Merkel in den Fragen von Hedgefonds und Klima – und sei es mit distanziert-skeptischem Beifall – unterstützt hätte, so wie bei Schröders Ablehnung des Irakkrieges? „Angie, bleib hart!“ Wäre das nicht ein kleiner Schritt hin zu einer wirklichen Welt-Gegenöffentlichkeit geworden, in der das Neue durch Fraktionierungen und kreative Spaltungen wächst? Man hätte dazu allerdings das eigene emotional befriedigende, unterkomplexe Weltbild überprüfen müssen.

Der Altermondialismus ist in kurzer Zeit zur globalen intellektuellen Kraft geworden. Zur politischen Bewegung für eine andere Welt muss er jetzt werden. Politik aber fängt damit an, dass man den Gegenspieler dort belagert, wo er seine permanente Adresse hat – und nicht nur eine für drei Tage. Dass man ihn dort aufsucht, wo man sein Handeln beeinflussen kann.

Geistige Blaupausen für eine solare, solidarischere Weltgesellschaft sind genug geschrieben, von Attac, von Klimaforschern, von ehemaligen Weltbankökonomen wie Joseph Stiglitz, ehemaligen Missetätern wie Geoffrey Sachs oder ehemaligen Meisterspekulanten wie George Soros. Um einiges davon umzusetzen, fehlt es nicht länger an Meinungsklima, sondern an Beschlüssen nationaler Exekutiven, die von der öffentlichen Meinung und ihren Parlamenten zum Handeln gezwungen werden: zu mutigen intenationalen Vorstößen, zu Alleingängen bei Schuldenerlass und Entwicklungshilfe, bei Apolloprogrammen in der Energiefrage.

Ein Leitartikler der FAZ hat das Dilemma der Protestbewegung auf den Punkt gebracht: „Sie stellen Forderungen an Politiker, mit denen diese zumindest heute keine Wahl gewinnen könnten“, weil die Mittelschichten – an denen orientiert sich die Politik – zu recht ahnen, dass die Investitionen in eine zukunftsfähige Welt, dass ein weltgerechter Umbau des Wirtschaftssystems zu ihren Lasten geht. Der FAZ-Satz ist allerdings nur richtig, wenn man die Betonung auf „zumindest diese Politiker“ legt. Aber woher, wenn nicht aus dem intellektuellen Überbau des Protests, sollen die Politiker kommen, die kreativ und charismatisch genug sind, nicht von „Opfern“, sondern von Investitionen zu reden, nicht von der Einschränkung alter Bedürfnisse, sondern von lockenden neuen?

Die große und begeisternde Idee des 21. Jahrhunderts ist der Aufbau der solaren und solidarischen Weltgesellschaft, bei Strafe ökologischer Desaster, Rohstoff- und Wasserkriege, Seuchen- und Hungerepidemien und Elendsvölkerwanderungen. Durchgesetzt werden historische Großideen in der zähen Arbeit von Ingenieurbüros, Parlamentshinterzimmern, Elternabenden, in der Langeweile von Gemeinderatssitzungen, Bürgerinitiativen und Wahlkämpfen. Die Idee vom langen Marsch durch die Institutionen ist ein mühsamer Klassiker, aber Aufklärung, die sich über sich selbst aufklärt, organisiert sich als Arbeit – oder sie verpufft. Dort immer weiter aufzuklären, wo alle es schon wissen, ist Energievergeudung.

Politik fängt damit an, dass man den Gegenspieler dort belagert, wo er seine permanente Adresse hat

Man möchte den Demonstranten von Rostock nicht gleich zumuten, in eine existierende Partei einzutreten und ihre Energie in Schwarmintelligenz zu verwandeln. Nicht jeder hat die Lust zu so einem Härtetest auf die Brauchbarkeit unserer parlamentarischen Ordnung. Aber der rituelle Karneval aufgeklärter junger Mitglieder der kommenden Elite, bei dem junge Frauen Weltkugeln aufblasen, athletische junge Männer im Hafen Figuren schwimmen und alle miteinander kilometerlange Baumwollbänder durch Straßen spannen, ist angesichts der welthistorischen Wende, vor der wir stehen, allmählich peinlich und unproduktiv geworden. Und, wenn schon demonstrieren: warum nicht eine Dauerpräsenz vorm Parlament, bis eine einprozentige Vermögenssteuer beschlossen wird, mit deren Erlös man die Zahl der Grundschullehrer verdoppeln könnte, bei uns oder in sechs afrikanischen Ländern? Oder, wenn’s denn Party sein soll, dann sind vielleicht die Strompartys das neue Aktionsmodell. Man könnte sich ja auch noch zu anderen Zwecken treffen, als kollektiv seinen Versorger zu wechseln. Da lässt sich vieles denken, was nicht nur symbolisch ist.

Fototext:

Mathias Greffrath schreibt als Autor oft über Globalisierungskritik.