Das Tempo-Taschentuch wird 80: Rotz und weg
Das Papiertaschentuch war eines der ersten Wegwerfprodukte der Welt. Und leistet noch heute wertvolle Dienste - etwa bei den rund 200 Erkältungen, die jeder im Leben durchmacht.
Auf dem Weg zur Arbeit schnell einen Chai Tee beim Coffee Shop und anschließend weg mit dem Becher. Das Plastikfeuerzeug und die Einkaufstüte ab in den Müll. Willkommen in der Wegwerfgesellschaft. Auch wenn im Supermarkt langsam der wiederverwertbare Stoffbeutel die Plastiktüte und im Imbiss das Metallbesteck die Plastikgabel ersetzt, treiben die Einwegprodukte täglich die Abfallberge in die Höhe. Manchmal können Wegwerfartikel aber auch ganz schön praktisch sein. Weil sie hygienisch sind. Wie die Windel, die Haushaltsrolle - oder eben das Wegwerftaschentuch, das in diesem Jahr 80 Jahre alt wird.
Wenn ein Markenname für eine ganze Produktgattung benutzt wird, nennt man das Deonym. Die bekanntesten:
Tempo für Papiertaschentuch
Kleenex für Einwegtücher in der Box
Googeln für die Suche im Internet
Pril/Fit für Spülmittel
Zewa für Haushaltsrolle
Labello für Lippenpflegestift
Selters für Mineralwasser
Post-it für Haftnotizzettel
o.b. für Tampons
Tesa für Klebefilm
Maggi für Würzsoße
Uhu / Pattex für Klebstoff
Tupperware für Plastikschüsseln
Pampers für Windeln
Nutella für Schokoladenaufstrich
Flex für Winkelschleifer
Fön für Haartrockner, Marke von AEG
Das Zellstofftaschentuch war eins der ersten Einwegprodukte der Welt. Seit seiner Patentanmeldung am 29.Januar 1929 haben sich die Zeiten geändert. Politische Ansichten, Musikrichtungen und Modestile kamen und gingen. Unser Alltag hat sich stark verändert. Was damals eine kleine Revolution war, ist heute alltäglich: Beim Niesen wird in der Tasche nach einer Packung Papiertaschentücher gekramt. Nach dem Benutzen landet der Zellstoff im Papierkorb. Eher ein Reflex als eine bewusste Handlung. Auch nach 80 Jahren ist der Name der Erfindung immer noch bekannt. So bekannt, dass er sogar als Synonym für das Putzpapier benutzt wird: Tempo.
Ein Mensch erlebt in seinem Leben durchschnittlich 200 Erkältungen. Das bedeutet etwa zwei bis drei Jahre schniefende Nase für jeden. Während in Japan und Korea das Hochziehen die einzig gesellschaftlich anerkannte Lösung ist, wird in der westlichen Welt geschnäuzt. Früher benutzte man dazu die Finger. Denn die ersten Leinentücher, die etwa 200 Jahre vor Christus im antiken Rom an der Toga mitgeführt wurden, dienten ausschließlich zum Abwischen von Schweiß und als Serviette. Im 11. Jahrhundert bekam es eine romantische Bedeutung. Die Ritter nahmen das Tuch ihrer Angebeteten mit in die Schlacht und gaben es anschließend schweiß- und blutgetränkt zurück. Es zum Naseputzen zu benutzen, wäre mehr als unschicklich gewesen. Im 15. Jahrhundert wurde das Taschentuch das, was heute eine Louis-Vuitton-Tasche ist: Statussymbol und Luxusgegenstand. Die Tücher wurden immer aufwändiger bestickt und herumgetragen. Erst pur, später mit Parfum getränkt.
Mit dem Aufkommen des Schnupftabaks erhielt das Stofftaschentuch seinen heutigen Zweck. Das früher dem Adel vorbehaltene Objekt wurde zum Gebrauchsgegenstand. Immer wieder in dasselbe Stofftaschentuch zu niesen, das mühevoll mit der Hand gewaschen werden musste, das galt auch im 20. Jahrhundert irgendwann als fragwürdig. Also gab es Versuche, ein in Glycerin getränktes, dünnes Stück Papier auf den Markt zu bringen. Da das sich als nicht besonders komfortabel erwies, bleiben aber viele beim guten, alten Textil.
Bis Oskar Rosenfelder 1929 das Tempo patentieren ließ. Der Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Nürnberg konnte damals nicht ahnen, dass seine Idee von einem Einwegtaschentuch aus Zellstoff solch ein Hit werden würde. Heute werden täglich mehr als neun Millionen Päckchen Tempotücher produziert. Von diesem Erfolg hat Rosenfelder allerdings nicht profitiert. Als Jude musste er in den dreißiger Jahren emigrieren und die Firma verkaufen - vermutlich zu dem damals üblichen Spottpreis für solch fragwürdige Geschäfte.
Nicht nur die Produktidee, sondern auch die Namensgebung war genial. Der Name hat Trends überdauert und passt genauso in unsere Zeit wie die damalige: er ist kurz, prägnant und steht für eine mobile Gesellschaft, in der alles ganz schnell gehen muss. In den 20er Jahren bekam die Freizeit einen hohen Stellenwert. Die Leute gingen aus, fuhren Rad, trieben Gymnastik. Auch die Frauen wollten Spaß haben und sich nicht länger als nötig den lästigen Haushaltspflichten widmen. So standauf der ersten Tempopackung "Nicht mehr Waschen". Und das Wort "hygienisch". Der Packungsaufdruck traf den damaligen Zeitgeist - denn mit dem Sport begann eine neue Körper- und Gesundheitskultur.
In den USA hieß es bereits 1924 ex und hopp für Tücher der Marke Kleenex. Sie wurden in einer Spenderbox als Kosmetiktücher verkauft. Die klassische Packung Taschentücher wie die von Tempo, begann Kleenex ab 1932 zu verkaufen. Noch heute sind die beiden Unternehmen Marktführer.
"Tempo hat damals ein Bedürfnis befriedigt, das bislang unbefriedigt war", erklärt Stefan Oberndörfer, Product Group Maganger der Marke Tempo, den Erfolg des Produkts - und benennt es als "Bedürfnis nach Hygiene und der Schutz vor Selbstansteckung." Doch den Menschen müsse erst einmal per Werbung erklärt werden, dass sie ein solches Bedürfnis überhaupt haben, so Oberndörfer. Heute eine Selbstverständlichkeit, Ende der 20er Jahre noch eine moderne Denkweise. Bereits im Erfindungsjahr erschien die erste Tempo-Werbung. Dass die Benutzer des Stofftaschentuchs sich immer wieder die alten Keime an die Nase halten, die sich in der warmen Hosentasche fröhlich vermehren, war vielen Menschen vorher nicht bewusst. Also wurden in den darauf folgenden Jahren in jeder Anzeige die Vorzüge des Tempotuchs lang und breit erklärt. Bis hinein in die 50er Jahre.
Inzwischen sind Papiertaschentücher nicht mehr erklärungsbedürftig. Jeder kennt und benutzt sie. Stofftaschentücher gelten als eklig und antiquiert. Auch den Namen Tempo braucht niemand mehr erklären. "Fast jeder sagt ,Hast du mal ein Tempo' und nicht ,Hast du mal ein Taschentuch'", sagt Oberndörfer stolz.
Wer erfolgreich ist, wird nachgemacht. Die Globalisierung macht es möglich. Je bekannter der Name, desto mehr Kopien. Das gilt nicht nur für Luxusgegenstände wie Rolex , sondern auch für Gebrauchsartikel. "Tinpo", "Tunpo" und "Tompe" heißen die Tempo-Fälschungen aus China. Ihnen widmet das Museum Plagiarus in Solingen sogar eine ganze Ausstellung. Die Exponate stammen aus der Sammlung von Verpackungsingenieur Christian Rommel. "Es gibt wohl kaum ein anderes Markenprodukt, das so oft, so kunstvoll und so vielfältig nachgemacht wurde, wie das beliebte Tempo", heißt es in seinem Text zur Ausstellung.
Auch wenn man in den 50ern von der kommenden Fälschungswelle noch nichts wissen konnte, standen bereits damals in den Werbeanzeigen Hinweise wie "Verlangen Sie die echten Tempo-Taschentücher" und "Erhalten Sie immer die echten Tempo-Taschentücher, wenn sie Tempo verlangen?" Ein Zeichen dafür, dass auch die seriöse Konkurrenz eingeführte Verbesserungen und Standards immer gerne von Tempo übernahm. Für Taschentücher und deren Verpackung gibt es keine Normgröße. Trotzdem besitzen alle das von Tempo eingeführte Format. 1975 bekamen die Tempos die so genannte Z-Faltung, mit der man das Tuch mit einer Hand schnell entfalten kann. Inzwischen ist auch die Falttechnik Marken übergreifender Standard.
Wie Oskar Rosenfelder auf die Tempo-Idee kam, ist unbekannt. Die begehrte Marke hat so oft den Besitzer gewechselt, dass die sonst in traditionellen Unternehmen üblichen Geschichten, Legenden und Anekdoten verloren gegangen sind. Dafür wird das Produkt bestimmt noch eine Weile überdauern. Also: Hatschi zum Geburtstag!
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