piwik no script img

Archiv-Artikel

Das System ist der Patient

betr.: „Das Gefühl der inneren Leere“, taz vom 11. 1. 08

In den Köpfen der „Genetiker“ unter den Psychologen ist offenbar noch nicht angekommen, dass psychische Strukturen weitestgehend während der Sozialisation vererbt werden. Der Schluss, die Gene seien dafür verantwortlich, wenn Depression sich unter Verwandten häuft, greift zu kurz.

Ähnliches gilt für die Annahme, Depression gehe auf Störungen neuronaler Schaltkreise zurück. Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Neuronale Schaltkreise bilden sich, bedingt auch durch Erfahrung und Lebensumstände, zum überwiegenden Teil während der ersten Lebensjahre, zum Teil auch noch während des ganzen Lebens aus. Neurophysiologen haben neugeborene Mäuse von ihren Elterntieren getrennt, sie ansonsten ganz komfortabel aufgezogen. Den Tieren fehlt dann zeitlebens ein Botenstoff im Gehirn, der Stress entgegenwirkt – sie stehen ihr Leben lang unter Angst, Panik, Unsicherheit; sie sind depressiv.

Auch dass die „klinische“ Depression „etwas völlig anderes“ sei als situationsbedingte Niedergeschlagenheit, ist ein Irrtum. Sie unterscheiden sich lediglich im Grad der Schwere. Hinzu kommt allerdings, dass ab einem bestimmten Schweregrad Kompensations- und Sicherungsmechanismen versagen, mit der Folge, dass es zum „Ausbruch“ der Krankheit kommt. In aller Regel ist sie jedoch durch das soziale System bedingt und diesem immanent: Das System Familie/Gesellschaft ist der Patient. GERHARD RUDOLF, Bad Homburg

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor. Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.