■ Das Schreckgespenst des islamischen Fundamentalismus in der Türkei hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun: Das republikanische Projekt
Im Vorfeld der türkischen Nationalwahlen produzieren Journalisten für das geneigte Publikum zu Hause wieder Schreckensvisionen aus der Türkei. Einst war das Bild vom Türken, der Kurden killt, sehr beliebt. Heute drohen böse, fundamentalistische Extremisten, die Macht an sich zu reißen.
Die islamistische Wohlfahrtspartei hat gute Chancen, bei den Wahlen am kommenden Sonntag zur stärksten Fraktion aufzusteigen. Da hält man lieber zu Ministerpräsidentin Tanju Çiller, der selbsternannten Jeanne d'Arc, die die Türkei mit einem Schwert in die europäische Modernität führen will. Wie auch immer: Die Türkei bleibt das Land dunkler, nahöstlicher Umtriebe. Die Mühe einer genauen Erklärung ist gefährlich, würde man sich damit doch ins eigene Fleisch schneiden – die Geschichte der Türkei ist schließlich auch untrennbarer Teil der europäischen Geschichte und der europäischen Verantwortung.
Der große Mustafa Kemal (Atatürk) ging nach Gründung der Türkischen Republik 1923 das wagemutige Projekt an, im Rahmen eines autoritären politischen Regimes einen bürgerlichen Nationalstaat nach europäischem Vorbild zu formieren. Die Zwangsassimilierung der Kurden zu „türkischen“ Bürgern gehörte ebenso dazu wie das Frauenwahlrecht und die Einführung des Laizismus, der Trennung von Staat und Religion. Der Staat lenkte die Ökonomie, verfügte hohe Schutzzölle und schuf erst die Basis für die Entwicklung des türkischen Kapitalismus. Der kurdische Nationalismus, der politische Islam und sozialrevolutionäre Strömungen waren die natürlichen Todfeinde des Regimes. Trotz Einführung des Mehrparteiensystems Ende der 40er Jahre blieben alle Regierungen im wesentlichen Nachlaßverwalter des Kemalismus.
Ein kleiner, dicker Mann hat in den 80er Jahren mit der kemalistischen Kontrolle der Wirtschaft gebrochen – zuerst als Ministerpräsident und dann bis zu seinem Tod 1993 als Staatspräsident. Unter dem Beifall der Europäer und Amerikaner ging der Neoliberale Turgut Özal vom protektionistisch orientierten wirtschaftlichen Entwicklungsmodell ab. Die Zölle wurden gesenkt, die Zentralgewalt verlor mehr und mehr die unmittelbare Kontrolle über die Wirtschaft. Aus kleinen Spekulanten, Handelskapitalisten und auch aus Rauschgiftdealern wurden die Neureichen der Özal-Ära. Das Stichwort „Globalisierung“ war nicht nur Ideologie. Erstmals bildete sich auch ein industrieller Sektor heraus, der konkurrenzfähig auf dem kapitalistischen Weltmarkt war.
Die Wirtschaftsliberalisierung hat die Herausbildung kollektiver politischer Identitäten gefördert und dabei neue Wunden aufgerissen. Die Kurden haben eine starke Guerillabewegung formiert, mit der der Staat militärisch nicht fertig wird. Die Aleviten – sie waren dem Staat treu, weil der Laizismus ihrer Knebelung durch den sunnitischen Islam ein Ende setzte – begehren auf, weil der Staat mittels des „Amtes für religiöse Angelegenheiten“ den sunnitischen Islam bevorzugt. Die Islamisten sind im Aufschwung – den Krisenopfern wird das Bild von der Solidargemeinschaft des Islam angeboten.
Das Auseinanderdriften der Gesellschaft entlang neu definierter Identitäten bringt die Krise des herrschenden Blocks – zu dem die Parteien und das Militär gehören – hervor. „Teile und herrsche“ ist die staatliche Antwort. Bei den Wahlen 1991 hat der Staat die Islamisten unterstützt, damit Abgeordnete, die der PKK nahestehen, nicht ins Parlament gewählt werden. Bei den gegenwärtigen Wahlen darf die HADEP (Demokratiepartei des Volkes) – die Vorgängerparteien wurden verboten sowie Hunderte von Funktionären und Parteimitglieder durch Todesschwadronen ermordet – zumindest in den Städten frei agieren, weil der Staat diesmal die Islamisten als Bedrohung ausgemacht hat.
Um die bürgerliche Gesellschaft zu schaffen, hat der kemalistische Staat Bulldozer eingesetzt und in der Einöde Straßen bauen lassen. Mittlerweile gibt es Städte mit Bussen, Autos und Motorrädern – doch die Bulldozer stehen immer noch herum und versperren den Weg. Das politische System der Türkei wird der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nicht gerecht. Der Kemalismus hat das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft mitsamt Klassen und Interessengegensätzen realisiert – nun kommt es darauf an, die Bulldozer, allen voran die mächtigen Militärs, aus dem Weg zu räumen. Die herrschenden Klassen der Türkei seien auf dem Weg zur Einsicht, daß der Hunger ein tauglicheres Instrument ist als die Prügel, um die Klassengesellschaft aufrechtzuerhalten, sagt der linke Autor Ertugrul Kürkcü.
Der Kemalismus war zum Teil sogar darin erfolgreich, den politischen Islam zu assimilieren. Die islamistische Wohlfahrtspartei ist wohl die moderateste muslimische Partei in allen 53 islamischen Staaten auf der Welt. Sie ist auf dem besten Weg, zu einer heterogenen bürgerlichen Volkspartei mit divergierenden Interessen zu werden. Die Frage, ob die Zollunion von Vorteil oder von Nachteil für die Türkei ist, hat den parteinahen Unternehmerverband MÜSIAD beinahe gespalten. Die Selbstdarstellung der Wohlfahrtspartei als „Systemalternative“ ist allenfalls billiger Propagandatrick. Schon heute lassen die Strategen der Partei durchblicken, daß es mit dem Zinsverbot nicht so ernst gemeint sei. Längst ist die Partei eine Systempartei, bei der eindeutig klar ist, daß der türkische Kapitalismus den globalen Verpflichtungen nachkommen wird.
Ungeheures passiert in der Türkei, es bilden sich politische Allianzen, die in dem staatlichen Grauschleier vor 20 Jahren undenkbar gewesen wären. Vom „Bündnis der Arbeiterklasse mit dem kurdischen Volk“ sprach ein Gewerkschafter vor wenigen Wochen in Diyarbakir, wo kurdische Organisationen zu einem „Kongreß der Demokratie“ eingeladen hatten. Eine Feministin redete über den „emanzipatorischen Moment, wenn Frauen an der Guerillabewegung teilnehmen“. Doch nach dem Sieg der Guerilla, im Frieden, käme es darauf an, „ob die Frau zum Herd zurückkehrt oder nicht“. Da regen sich Kriegsdienstverweigerer und Ökologen, die den „dreckigen Krieg“ in Kurdistan verurteilen.
Das Aufkeimen solcher Strömungen ist letztendlich der massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirkungskraft des republikanischen Projekts geschuldet, während der Kemalismus als politisches Herrschaftsmodell zum Anachronismus geworden ist. Ömer Erzeren, Istanbul
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