Das Schlagloch: Tracht und Niedertracht
Sündteure Jodel-Klamotten sagen zweierlei aus: Man ist "deutsch" und bekennt sich zu "Tradition". Der Trend ist Ausdruck eines neuen deutschen Kleinbürgertums.
D er Zerfall des Mittelstandes in Deutschland produziert die tollsten semiotischen Blüten. In den Städtchen boomen Geschäfte, in denen Trachten, Dirndl und Lederhosen feilgeboten werden. Der Trend geht zu "Trachten-Outlet-Stores" in Industriegebieten oder in umgebauten Bauernhöfen und Ställen, die am Wochenende gern ein Unterhaltungsprogramm für die ganze Familie anbieten. Und sagenhafte "Schnäppchen".
Das Tragen sündteurer Jodel-Klamotten wird zum mehrfachen Ausweis der Zugehörigkeit: Man ist "deutsch", und zwar "richtig" (Menschen mit "Migrationshintergrund" verirren sich eher selten in einen Trachten-Outlet-Store). Man bekennt sich zudem vage zu einer Tradition. Jede Haube, jede Tasche, jeder Knopf entsprach einst einer ständischen Gesellschaft, und bei diesem textilen Reenactement einer "guten alten Zeit" schwingt eben immer auch die Sehnsucht nach einer vormodernen, vordemokratischen und voraufgeklärten Gesellschaft mit.
In der alten Form der Heimattümelei trug man die Tracht zu besonderen Anlässen. Es ging, wie bei anderen Formen des "Brauchtums", um eine Bewahrung, bei der man Teil eines lebenden Museums wurde. Doch Brauchtum, Tradition und Tracht waren nicht nur bei den organisierten "Heimatvertriebenen" zugleich Köder und Maske für reaktionäre bis revanchistische Politik und Kultur. Man kann daher, beim besten Willen, diesen textilen Code nicht "unschuldig" benutzen.
ist Publizist und Filmkritiker. Er lebt in Kaufbeuren und hat über 20 Bücher über das Kino geschrieben. Demnächst erscheint von ihm und Markus Metz: "Blöd-Maschinen: Die Fabrikation der Stupidität" (bei Suhrkamp).
Bekenntnis zur Provinzialität
Auch die Volkstümlichkeit als Segment der nationalen Unterhaltungsindustrie erlebte ihre neuerliche Blüte durch einen Generationen- und Perspektivwechsel. Volkstümlichkeit war nicht mehr allein das Verständigungsinstrument eines alten, rückwärtsgewandten Kleinbürgertums, sondern in einer so oder so verschärften Form gerade der karrieristisch-überaffirmativen Jugend, die sich zum Motor des Neoliberalismus machte und die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst kaum aushalten konnte. Das Volkstümliche wie die Outlet-Tracht wirken als Bekenntnis nicht zu einer bestimmten Provinz, sondern zu einer allgemeinen Provinzialität (vielleicht noch vage an bestimmte Traumlandschaften deutscher Heimatlichkeit gebunden: die Alpen, die Heide, die Küste).
Was die sexuelle Ökonomie anbelangt, wird dieser Code dankenswert offen verwendet: Das Dirndl, in mehr oder weniger frei wählbarer Abstufung, ist eine akzeptierte Art, das Obszöne mit dem Ordentlichen zu verbunden. Dirndl und Lederhose konstruieren und rekonstruieren Männlichkeit und Weiblichkeit auf sehr spezifische Weise (aus der übrigens, wenn ich mich nicht irre, die Dimension der Ironie zunehmend verbannt wird).
Alles wird vertrachtet
Der textile Code ist unabdingbar mit bestimmten Ritualen und Gesten verbunden. In aller Regel ist man zu irgendeinem Volksfest oder einem anderen "Event" der Provinzialität unterwegs, und sei's zur Einweihung einer Mehrzweckhalle. Der verjodelte und reprovinzialisierte deutsche Mittelstand jenseits der zwanzig und diesseits der vierzig verwandelt sich auf dem Land, das er mit solcher Liebe und Lust erobert hat, gemeinsam mit dem entwurzelten und verkleinbürgerten, aber nicht-mal-so-schlecht-verdienenden Teil der affirmierten Landbevölkerung in eine neue Klasse, die sich kulturell als Partyvolk zeigt, die von einer Selbstfeier zur anderen zieht.
Die Mitglieder dieser neuen Klasse des deutschen Volkstümlichkeitskleinbürgers sind insofern ein klitzekleines soziales Problem, weil die Sphäre zwischen "Gut drauf sein" und Amoklaufen ausgesprochen knapp bemessen ist. Denn die Spannung zwischen Aufstiegslust und Abstiegsangst ist offensichtlich nur durch besonders rasche Wechsel von Regression und Aggression abzubauen.
Damit sich der Jodler-Dress in mehrfacher Hinsicht auch rentiert, muss man ihn sehen lassen. Dazu müssen die Anlässe dafür erweitert werden. Es reichen also nicht mehr die Hochzeiten und Volksfeste aus - Sport, Disco, Wellness im Mega-Stadlhotel, das alles wird vertrachtet. Die teuren Jodlerklamotten sind unterwegs, um sich zu verwerten: sexuell, ökonomisch und politisch. Und, genau besehen, von einem Besäufnis zum anderen. Das Tragen einer Tracht beinhaltet nicht nur die Erlaubnis, politisch und sexuell mehr als unkorrekte Witze zu lallen, sondern auch genau das Verhalten an den Tag zu legen, das ansonsten im Diskurs der Klasse als "nicht schicklich" galt. Übrigens einschließlich dessen, was dann in der Zeitung als "sinnlose Gewalt" vorkommt.
Oktoberfest als Brutstätte
Das alles ist insofern kein Wunder, als der neue "Dirndl-Boom", den die Hersteller im Süden entzückt registrieren, seinen Ursprung auf dem Münchner Oktoberfest hat, das seit Jahr und Tag als Durchlauferhitzer für einen neuen Sozialbazillus aus schlechtem Geschmack und mittlerem Reichtum (ebenfalls mit einem "Geschmack") bewährt ist. Hier etablierte sich das Tragen von Trachten insbesondere bei jungen Leuten in den sogenannten nuller Jahren als Bekenntnis zur hedonistisch gemäßigten Rechten (die ganz echten Nazis tragen dann wieder so etwas nicht, weil es dann doch nicht gesamt- und großdeutsch genug und auch zu unmilitärisch ist).
Der Verlust der Heimat durch die gnadenlose Ökonomie wird von der neuen schlafstädtisch/ländlichen Mittelklasse durch eine gnadenlose Ökonomisierung der Heimat beantwortet. Wenn man einer Gruppe deutscher Kleinbürger im Jodlerdress begegnet, kann man, neben der Mehrheit, die ohnehin schon so besoffen ist, dass sie nichts mehr mitkriegt, zwei User-Gruppen ausmachen: die einen, die ihre teure Tracht sehr bewusst und vollständig adaptiert als Medium sozialer Identifikation und der Karriere einsetzen. Und die anderen, die vor Scham und Unsicherheit am liebsten im Boden versinken würden.
Der zerfallende deutsche Mittelstand hat sich bei seinem kannibalistischen Beutezug in die Provinz vor lauter Landliebe und Volkstümlichkeit an Tracht und Niedertracht überfressen. Und jetzt kriegt man das Kotzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen