Das Recht der Zaungäste
KOMMENTAR VON NIKOLAI FICHTNER Archiv-Artikel
Als die G-8-Gipfel noch Jubelveranstaltungen der westlichen Welt waren, trauten sich die Staatschefs noch in die Metropolen: London, Tokio, Köln. Doch seitdem sich die kritischen Stimmen mehren und es nicht mehr allen einleuchtet, warum acht Staatschefs allein die Weichen für Weltwirtschaft und Entwicklung stellen, gilt das Prinzip Abschottung: eine kleine Insel vor der US-amerikanischen Küste, die Einsamkeit eines kanadischen Wintersportorts, ein Golfplatz im schottischen Hochland. Und jetzt das beschauliche Heiligendamm. Seit den Protesten von Genua 2001 versuchen die G 8, sich vor ihren Kritikern zu verstecken.
Nichts als Ostseerauschen und Vogelgezwitscher soll die Beratungen der Staatschefs stören. Die Protestrufe der Kritiker werden ausgelagert. Die Demonstranten dürfen allenfalls in Rostock eine Runde drehen oder sich fernab vom Gipfel beim Grönemeyer-Konzert amüsieren. Der Tagungsort selbst ist tabu – er wird weiträumig abgesperrt durch einen zwölf Kilometer langen Zaun. Und als wenn das nicht genug wäre, erklärt die Polizei jetzt auch das Symbol der Abschottung selbst zur No-go-Area. In einer kilometerbreiten Sicherheitszone rund um den Zaun ist jede spontane Versammlung verboten.
Aus Sicht der Bundesregierung ist die Bannmeile verständlich: Es sind einfach keine vorteilhaften Bilder, die da um die Welt gehen könnten: bunt gekleidete Aktivisten vor einem Stacheldrahtzaun, gepanzerte Polizisten, die die Regierungschefs beschützen.
Die Bundesregierung hat diesen Zaun gebaut. Jetzt muss sie auch mit den Bildern vor dem Zaun leben. Denn die Gipfelkritiker haben einen gewichtigen Verbündeten: den Rechtsstaat. Jeder sollte sich das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 ausdrucken und mit auf die Demo nehmen. Dort steht: Die Demonstranten dürfen ihr Anliegen an den Ort des Geschehens tragen. Staatschefs, die über die Geschicke der Menschheit entscheiden wollen, müssen auch die Proteste ihrer Kritiker ertragen. Man darf gespannt sein, wer die neue Bannmeile zuerst kippt: die Demonstranten vor Ort oder die Gerichte, die jetzt entscheiden müssen, ob das Brokdorf-Prinzip auch in Heiligendamm gilt.