■ Das Portrait: Joseph Sitruk
Leider gewonnen Foto: Reuter
Die Glückwünsche bleiben einem in der klammen Hand stecken: Daß Joseph Sitruk, 49, nun zum zweitenmal Großrabbiner von Frankreich geworden ist und gleich wieder auf sieben Jahre, freut nur eine handverlesene Minderheit. Auf dem Spiel stand bei der völlig unberechenbaren Wahl vom letzten Sonntag, nichts Geringeres als die Entscheidung für oder gegen das laizistische System, für oder gegen den religiösen Fundamentalismus und schließlich für oder gegen ein intellektuell luzides, modernes Judentum. – Nie hätte Sitruk, Vater von neun Kindern, geglaubt, daß sich ihm überhaupt jemand in den Weg stellen würde. Siegesgewiß hatte er geschaltet und gewaltet, war bei Mitterrand aus und ein gegangen, hatte gegen den Frieden mit der PLO gedonnert („Ich liebe ganz Israel“) und den Juden verboten, an den Kantonalwahlen teilzunehmen, weil sie auf das Pessachfest fielen. Sein Herausforderer, der Studentenrabbiner Gilles Bernheim (41, hat nur drei Kinder aufzuweisen), ist Mitbegründer eines sehr produktiven, subversiven kleinen Denkzirkels und ebenfalls ein Orthodoxer. Aber er kommt aus den „Beaux Quartiers“, einem großbürgerlichen, hauptsächlich aschkenasischen Viertel von Paris, während es Sitruk lieber hemdsärmlig mit der maghrebinischen Volkstümlichkeit hält. – Die Konkurrenz um die Macht in den postnapoleonischen, religiösen Institutionen, die über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, in den Händen aschkenasischer Juden aus dem Elsaß lag, ist ein nicht zu verachtender Grund für die Niederlage von Bernheim und den Sieg der machtbewußten, ritualisierten Orthodoxie. In den Kleiderfabriken von Le Sentier, in den koscheren Schlächtereien auf der Rue de Rosier und bei den algerischen, tunesischen und marokkanischen Juden in der Beton-Vorstadt Sercelle freut man sich. Lange genug saßen in allen Spitzenpositionen Verwandte und Günstlinge der Rothschilds. Aber der Wind hat sich gedreht; die maghrebinischen und sephardischen Juden aus den ehemaligen Kolonien, einst freudig empfangen als (machtlose) Reanimateure einer nach der Shoah ausgebluteten aschkenasischen Gemeinde, wollen sich entsprechend ihrer zahlenmäßigen Mehrheit repräsentiert sehen. Sitruks Wahlspruch „Judaisiert die Juden“ kommt ihnen, die oft neben islamischen Fundamentalisten leben, ganz recht. Aber ob diese Wiedererweckung der Republik guttut, bleibt abzuwarten. mn
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