■ Das Portrait: Trotzige Trotzkistin
„Arbeiterinnen, Arbeiter!“, so beginnt Arlette Laguiller ihre Reden. Dann listet sie auf, was alles in Frankreich nicht stimmt. Die Patrons werden immer reicher und die Arbeiter immer ärmer, die Profite immer größer, die Arbeitsplätze immer rarer, die Spekulation wird immer gigantischer, die produktive Investition immer geringer. Gegen die Misere hilft einzig der Klassenkampf.
Eingerahmt von roten Fahnen, tourt die 55jährige Trotzkistin in diesen Wochen durch Frankreich: Zum vierten Mal versucht die Angestellte der maroden Bank „Crédit Lyonnais“ Staatspräsidentin zu werden, und ihre gutbesuchten Veranstaltungen zeigen, daß sie anspricht, was die Franzosen anderswo nicht mehr finden. Mit ihren notorisch rosafarbenen T-Shirts, ihren dunklen, kurzgeschnittenen Haaren und ihrer aufgeregt nach Luft schnappenden Stimme hat die Bankangestellte äußerlich etwas ganz Gewöhnliches. Wenn sie spricht, nimmt sie Begriffe in den Mund, die sonst aus dem Vokabular der Franzosen verschwunden sind. Wörter wie „Arbeiterkontrolle“, „Verstaatlichung“ und „Revolution“. Als Präsidentin würde Laguiller Finanzhilfen an das Kapital einstellen, Entlassungen verbieten und Patrons, die es trotzdem täten, enteignen. Das freiwerdende Geld würde sie zur Schaffung von Arbeitsplätzen unter staatlicher Ägide nutzen. „Wir brauchen autoritäre Maßnahmen“, sagt sie – meist unter tosendem Beifall. Die Kandidaten der großen Parteien, Balladur, Chirac und Jospin, steckt sie in einen großen Topf: Alle drei wollten die Unternehmen unterstützen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Selbst die Kommunistische Partei betreibe eine Umverteilung zugunsten der Patrons.
Arlette Laguiller Foto: AFP
Laguiller von der 2.000 Mitglieder starken trotzkistischen Organisation „Lutte Ouvrière“ hat alle anderen Linksradikalen überlebt: die Sowjetunion und die übrigen „bürokratisierten, stalinistischen“ Staaten, die Maoisten und die Anhänger der albanischen Kommunismus-Variante. Selbstbewußt weist sie heute auf fünf Prozent der Wählerstimmen hin, die ihr prognostiziert werden.
„In 20 Jahren hat sie ihre Meinung kein bißchen geändert“, sagen Laguillers Anhänger. Adrett gekleidete Leute, darunter Arbeiter, aber auch Studenten und Altlinke. Am Ende ihrer Auftritte stehen sie alle auf, heben die Faust und singen die Internationale. Dann nehmen ein paar von ihnen die roten Fahnen von den Masten und spannen sie zur Kollekte auf. Dorothea Hahn
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