piwik no script img

Das PortraitHeißgelaufene Hoden

■ Jerry Lee Lewis

Einmal wollte Sam Phillips einen seiner Stars dazu überreden, doch mal was Langsameres aufzunehmen. Eine hübsche Abwechslung wäre das, meinte der legendäre Produzent von Sun Records, bei all dem Boogie, den sein Schützling sonst für die Plattenfirma in Memphis abliefere. Elvis, der damals noch nicht King gerufen wurde, mache es auch, und Balladen hätten in den Charts sowieso die größeren Chancen. Der Antwort von Jerry Lee Lewis war nicht viel entgegenzusetzen: Zu große Ähnlichkeit mit Kirchenliedern, befand er, als gläubiger Christ habe er nicht vor, die Musik Gottes mit der des Teufels zu vermischen. Vom Ende des Jahrtausends aus betrachtet, erscheint die obsessive Beschäftigung des Rock'n'Roll mit Glaubensfragen wie Kinderkram, aber die großen Performer der 50er haben viel von Laienpredigern gelernt. Und nicht nur Little Richard wurde selbst einer.

Bei Lewis trat diese Diskrepanz am heftigsten auf. Sein Vetter Jimmy Lee Swaggart drohte als einer der berüchtigtsten Fernsehprediger mit einer überaus realistischen Hölle, während sein Verwandter von seinen heißgelaufenen Hoden sang. Denn die „Great Balls of Fire“ waren ebenso eindeutig zweideutig gemeint wie das Schütteln aus „Whole Lot of Shakin' Going On“. Lewis beließ es nicht beim Singen: Sechs Mal war er verheiratet. Eine Ehefrau des „Killer“, wie er sich selbst nannte, fand sich verblutet im Ehebett, eine tot im Swimmingpool. Magendurchbrüche, Schießereien und Steuerschulden pflasterten seinen Weg.

Ein Killer wird 60: Jerry Lee Lewis Foto: Rolling Stone

Seine „balls“ wurden aber erst zum Verhängnis, als er seine 14jährige Cousine heiratete, bevor er von seiner zweiten Ehefrau geschieden war. Mehr als zehn Jahre brauchte der Bigamist, um sich von diesem berühmtesten seiner vielen Skandale zu erholen. Die inoffizielle Übereinkunft aller R'n'R-Radiosender, seine Platten nicht mehr zu spielen, umging er Ende der 60er mit einer zweiten Karriere als Country- Crooner.

Live aber blieb er fast bis zuletzt der Alte. Die blonde, viel zu lange Locke fiel – wenn auch etwas ausgedünnt – noch immer beim ersten Akkord vors Gesicht. Und auch wenn die Knochen nicht mehr so recht mitmachen wollten, er spielte sein Piano, als wäre Brennholz vonnöten, und früher soll er auch tatsächlich eines angezündet haben. Jerry Lee Lewis wird heute erst 60 Jahre alt, aber all dies scheint eine Ewigkeit her zu sein. Der Mann war so sehr Rock'n'Roll, daß er schon längst nur mehr wie eine Karikatur seiner selbst wirkte. Thomas Winkler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen