Das Portrait: Die Wahrsagerin
■ Wangelia Guschterowa
Wanga wußte einfach über alles Bescheid: Schon als 17jährige sah das Bauernmädchen aus dem bulgarischen Provinznest Rupite, 160 Kilometer südlich von Sofia, den Zweiten Weltkrieg nahen. Lokalen Partisanenkämpfern gab sie in den 40ern Tips im Kampf gegen die deutschen Faschisten. Im Frühjahr 1968 erahnte sie den bevorstehenden Einmarsch des Warschauer Pakts zur Niederschlagung des Prager Frühlings, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wußte sie: Es kommt zum Krieg im Kaukasus.
Wangelia Guschterowa, von ihren Landsleuten liebevoll Tante Wanga genannt, ist am Sonntag im Alter von 84 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Tante Wanga war nicht irgendeine Hellseherin Bulgariens, sie war „eine Institution“. Keine Tageszeitung in Sofia, die Wangas Tod nicht mit großen Lettern auf der Titelseite vermeldete, die das Wirken der Wahrsagerin nicht kommentierte. Die aus armen Verhältnissen stammende Wanga, die in ihrem 12. Lebensjahr völlig erblindete, konnte Geheimnisse der Vergangenheit sehen und in die Zukunft blicken, richtige Diagnosen stellen, zutreffende Vorhersagen machen und selbst vermißte Personen ausfindig machen. Fast jeden Tag strömten Tausende von kranken und verzweifelten Menschen zum Haus von Wanga in Rupite, um Rat und Heilung zu suchen. Die Sprüche der Blinden, die oft wie in Trance wirkte und gelegentlich in einem so unverständlichen Dialekt sprach, daß ihre Worte übersetzt werden mußten, waren für viele die letzte Hoffnung. Im Volk galt sie bald als Heilige, und selbst Politiker und Intellektuelle suchten das Gespräch mit ihr – vom kommunistischen Diktator Todor Schiwkow bis zu den demokratischen Umstürzlern des Jahres 1989.
Tante Wanga hatte für weltpolitische Ereignisse immer eine Erklärung, die die heimischen Politiker von jeglicher Verantwortung freisprach. Und wenn die Hochverehrte ein Phänomen einmal nicht begreifen konnte, dann griff sie auch schon einmal zu Platitüden: Kurz vor ihrem Tod prophezeite sie, daß die Erde noch viele Phasen der Unruhe erleben und das Gleichgewicht des Planeten erst dann wiederhergestellt werde, wenn Außerirdische mit den Menschen in Kontakt träten. Aber vielleicht ist das ja auch alles wahr. Karl Gersuny
Wunder auch auf den Eurotaz-Seiten 14 und 15
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