■ Das Portrait: Katholische Mystik mit 100.000 Volt
98 Prozent aller Französinnen hätten, so eine Umfrage der Zeitschrift Paris Match aus dem Jahre 1968, ihren Ehemann auf der Stelle für ihn eingetauscht. Auch bei uns hatte der Sänger immer eine große Anhängerinnengemeinde, was die Radiowunschkonzerte stets bewiesen und was sich überaus ertragreich auf seine Lizenzabrechnungen auswirkte.
Diejenigen, denen Udo Jürgens zu deutsch war, verlegten sich mit dem Willen zur Anbetung alternativ auf ihn: Gilbert Bécaud, der einer genialen Werbeidee zufolge auch als „Monsieur 100.000 Volt“ bekannt ist – er singt, charmiert und wirft Kußhände noch immer.
Viele seiner Kompositionen sind zu Weltschlagern geworden: „Et maintenant“ (auf deutsch: „Was wird aus mir“ von Caterina Valente), „Nathalie“ oder „L'important, c'est la rose“ („Überall blühen Rosen“) stammen ebenso aus seinem Notenblock wie auch „Je t'ai dans la peau“ (etwa: „Du gehst mir unter die Haut“): ein katholischer Popmystiker.
1927 wurde Bécaud alias Francois Léopold Silly als Sohn eines Kaufmanns und einer Hausfrau in Nizza geboren. 1946 begann er seine musikalische Laufbahn am Piano eines Nachtclubs, spielte in Cafés und Bistros – in einem Pariser Caféhaus wurde der „geborene Konzertmusiker“ (Bécaud) auch von der Piaf entdeckt. Sie verschaffte ihm Auftritte im legendären „Olympia“. Es folgten Lehrjahre beim Pantomimen Marcel Marceau, daneben die Gesangsausbildung. Der „Ritter der Ehrenlegion“ Frankreichs und Verdienstkreuzträger der Bundesrepublik gehörte zu den ersten französischen Künstlern, die im einstigen Feindesland Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auftraten.
Sollte er eines Tages sterben, ist ihm auf alle Fälle ein Platz im Pantheon Frankreichs sicher: Er ist in seinem Land ebenso populär wie es die Piaf, Georges Brassens und Jean-Paul Sartre waren.
Ein „Mann des Volkes“ (Le Monde), rauh und zart in der Sprache zugleich, leicht in der Melodie, aber nicht simpel: Ein Kerl, der es nie zum Herrn brachte – das mochten die Leute am liebsten. Politisch zeitgeistig war der gelegentlich auch als Filmschauspieler arbeitende Musiker nie, dennoch hat Bécaud, der sich gern zu Wohltätigkeitsveranstaltungen einladen ließ, immer durchblicken lassen, daß die Regierung für die kleinen Leute da sein müsse. Jan Feddersen
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