Das Portrait: Istanbuls Oberarmenier
■ Mesrob Mutafyan
Eigentlich hatte er sich sein Leben ganz anders vorgestellt. Studieren, einen guten Job bekommen, ordentlich Geld verdienen, die Welt kennenlernen. Mesrob Mutafyan war die Berufung zum 84. Patriarchen der Armenier in der Türkei ganz und gar nicht in die Wiege gelegt worden. Er stammt aus einer wenig religiösen Familie. Lediglich seine Großmutter war in der armenischen Gemeinde Istanbuls aktiv.
Eigentlich, sagt Mutafyan, habe ihn erst ein schwerer Autounfall dazu gebracht, neu nachzudenken. Ein Zufall führte ihn damals zur Kirche. Ein Bekannter aus den USA hatte ihn gebeten, einen Brief an den damaligen armenischen Patriarchen Kalutsjan persönlich zu überbringen. „In Jeans und T-Shirt bin ich hingegangen und habe Kalutsjan getroffen“, erinnert sich Mutafyan. Der Patriarch habe ausgesehen, „als käme er geradewegs aus der Bibel. Ich war vollkommen fasziniert.“
Der Patriarch wurde zum Förderer und Wegbegleiter Mutafyans. Er schickte ihn zu Priesterseminaren in die USA und nach Deutschland und machte ihn zum Sekretär. Obwohl Mutafyan seitdem in der kirchlichen Hierarchie Karriere machte, merkt man ihm an, daß er auch das Leben außerhalb dieser Gemeinschaft kennt.
Mit Mutafyan werden die 70.000 Armenier, die noch in der Türkei leben, wieder eine Stimme bekommen, die auch in der Öffentlichkeit präsent sein wird. Das war einer der Gründe, warum zumindestens ein Teil des Staatsapparats und der rechten, chauvinistischen Presse im Vorfeld der Wahl versuchten, Mutafyan zu verhindern. Schließlich lastet der uneingestandene Völkermord von 1915 immer noch auf dem türkisch-armenischen Verhältnis. Aber auch intern gab es heftigen Widerstand. Der konservative, an seinen Pfründen orientierte Teil der armenischen Gemeinde, wollte keinen 42jährigen Modernisierer, der alles auf den Kopf stellt.
So wurde die Wahl verzögert, bis es einen Gegenkandidaten gab, der versprach, alles beim alten zu lassen. Bei der Wahl der Delegierten wurde gedroht und mit Geld gelockt, Sympathisanten Mutafyans befürchteten bis zuletzt eine verschobene Wahl. Zu Unrecht, wie sich jetzt herausstellte. Am Ende der Wahlprozedur, als über der armenischen Kathedrale „weißer Rauch“ aufstieg, hatte Mutafyan mit 74 gegen 15 Stimmen gewonnen. Jürgen Gottschlich
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