Das Portrait: Hippie-Fossil
Toll, diese Titel! „Abraxas“, „Moonflower“ oder „Love, Devotion & Surrender“ – die psychedelisch-blumigen Titel seiner Platten klingen heute wie das Echo einer fernen, seltsamen Epoche. Und auch Carlos Santana selbst scheint irgendwie nicht mehr so recht in die heutige Zeit zu passen. Neben MTV-genormten Mainstream-Klonen wirkt der spindeldürre Gitarrist mit Schnauzbart und Fusselfrisur, die auf der Bühne nicht selten von einem schweißnassen Stirnband im Zaum gehalten wird, fast wie die Karikatur eines Hippie-Fossils. Von so jemandem erwartet man nichts wirklich Neues mehr, schon gar keine Überraschungen.
Doch die ist Carlos Santana im letzten Jahr geglückt, mit seinem Album „Supernatural“ – noch so ein Titel! Über 5 Millionen Mal verkaufte sich die Platte allein in den USA und bescherte dem 52-jährigen Gitarristen dort den ersten Nummer-1-Hit seit gut 30 Jahren. Die Auszeichnung mit dem „American Music Award“ für das „beste Rock- und Popalbum“ am Montag ist da nur konsequent. Der aktuelle Erfolg, nicht das Lebenswerk erklärt, warum sich bei der Preisvergabe in Los Angeles das Prinzip Alter vor jugendlich-aseptischer Schönheit so deutlich durchsetzen, und Santana alle Konkurrenten auf ihre Plätze verweisen konnte. Britney Spears und die Backstreet Boys mussten jedenfalls mit sekundären Auszeichnungen vorlieb nehmen, und erfolgsverwöhnte Hochglanz-Diven wie Whitney Houston und Jennifer Lopez gingen ganz leer aus.
Mit übernatürlichen Kräften, an die der bekennende Esoteriker Santana nur zu gerne glaubt, hat sein spätes Glück allerdings wenig zu tun, dafür viel mit strategischem Geschick und den Launen des Zeitgeists. Denn das Album „Supernatural“ glänzt durch eine betont poppige Produktion, und eine lange Liste unterschiedlicher Gaststars, die das Gesamtbild prägen. Santana selbst kann bekanntlich nicht singen, und hielt sich auch mit seinen sonst so berüchtigten Gitarrensoli vornehm zurück. „Supernatural“ lag zudem ganz im Trend. Weil Latin-Klänge im Fahrwasser von Ricky Martin im letzten Jahr weltweit wieder populär wurden, erinnerte man sich auch wieder an den stetig vor sich hingniedelnden Woodstock-Veteranen, der gerade erst wieder bei einer neuen Plattenfirma einen Vertrag unterschrieben hatte.
Auch zu Lebzeiten in die Rock-’n’-Roll-Ruhmeshalle überführte Musiker leben manchmal länger. Der nächste Preisregen kündigt sich jedenfalls jetzt schon an. Für die noch weit prestigeträchtigeren Grammy-Awards, die im Februar verliehen werden, ist Carlos Santana in elf Kategorien nominiert.
Daniel Bax
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