Der Stadtentwicklungsplan Verkehr (Teil 13) : Das Normale ist nicht akzeptabel
Tempobegrenzung darf auch auf Hauptstraßen kein Tabu sein
Mit dem Stadtentwicklungsplan Verkehr (StEP) beginne ein „neues Verkehrszeitalter“, kündigte der Senat vollmundig vor einem Jahr an. Auf das Jahrzehnt der Restauration der Verkehrsinfrastruktur soll jetzt ein Jahrzehnt der „intelligenten Nutzung“ folgen. Experten, Planer und Kritiker diskutieren an dieser Stelle, immer freitags, über die Zukunft der Berliner Verkehrspolitik.
Rund 130.000 Verkehrsunfälle, 15.000 Verletzte, 77 Tote. Das ist die Berliner Verkehrsstatistik des letzten Jahres. Wer den Schaden in Geld ausdrücken will, spricht von einer Milliarde Euro. Trotz dieser erschreckenden Zahlen ist Berlin nicht die Hauptstadt der Verkehrsrowdys und Amokfahrer. Berlin weist eine für deutsche Großstädte „normale“ Verkehrsstatistik auf. Wer es ruhiger liebt, muss sich auf den Weg nach Skandinavien machen. In Schweden zum Beispiel gibt es die „Vision 0“. Eine Zukunft ohne Verkehrstote ist das verbindliche Ziel.
Dort geht es vor allem den Fußgängern deutlich besser. Denn Berlins Verkehrsstatistik zeigt, dass zu Fuß gehende und Rad fahrende Menschen im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern hier besonders gefährlich leben. Fast 40 Prozent der tödlich Verunglückten im vergangenen Jahr waren Fußgänger, 31 Prozent Radfahrer. Das heißt, sieben von zehn Verkehrstoten sind „nichtmotorisierte“ Verkehrsteilnehmer. Die Opfer sind meist junge Erwachsene, Kinder und Jugendliche sowie Senioren.
Gefahrenzonen sind Kreuzungen, Bushaltestellen und leider oft auch Fahrradwege. Die Delikte heißen Vorfahrt nehmen, beim Abbiegen nicht nach hinten schauen, bei Rot fahren, betrunken fahren etc. Die Polizei beobachtet ein zunehmend aggressives Verhalten im Straßenverkehr und eine wachsende Bereitschaft zu Regelverstößen bei Autofahrern, Radfahrern, auch Fußgängern. Leider gilt die Erfahrung: Wenn weniger kontrolliert wird, wird schneller und rücksichtsloser gefahren.
Es muss sich also einiges ändern – aber wie? Wichtig ist zunächst einmal das Ziel. Auch für Berlin sollte es eine „Vision 0“ geben, als Fernziel. Mit größten Anstrengungen erreichbar ist eine Reduzierung der Verkehrstoten und Verletzten um mindestens 40 Prozent in den nächsten 10 Jahren. Dieses Ziel setzt der Stadtentwicklungsplan Verkehr. Die Anstrengung muss in drei verschiedene Richtungen gehen: Der Trend zu immer mehr Kfz-Verkehr muss gebrochen werden. Kooperatives Verkehrsverhalten aller Teilnehmer muss wieder zum Regelfall werden. Und außerdem muss die Stadt zu einem der Gesundheit und Sicherheit zuträglichen Tempo finden.
Der StEP Verkehr beschreibt die strategischen Elemente und zeigt, dass nur durch ein Zusammenspiel von Verkehrsplanung, Straßenentwurf, Mobilitätserziehung, Informationsarbeit und Tempokontrollen weitere entscheidende Verbesserungen zu erreichen sind.
Inzwischen sind die Arbeiten an einem neuen Verkehrssicherheitsprogramm für Berlin fortgeschritten. Das Programm setzt zwei Schwerpunkte: die bessere Identifizierung und schnellere Beseitigung von Unfallursachen sowie die Präventionsarbeit, zum Teil mit neuen Inhalten.
Eine Sonderauswertung der Verkehrsunfalldaten vieler Jahre wird helfen, besonders unsichere Straßen und Kreuzungen zu ermitteln. Die Abhilfe wird durch die Einrichtung so genannter Unfallkommissionen beschleunigt. Mehr Zebrastreifen, fußgängerfreundlichere Ampelschaltungen und mehr Radfahrstreifen werden den „Langsamverkehr“ sicherer machen.
Aber auch eine abschnittsweise Tempobegrenzung im Hauptverkehrsstraßennetz darf, wo die Unfälle und die Lärmbelastung sich häufen, kein Tabu sein. Kontrollen sind auch künftig leider nicht verzichtbar. Sie sollen dort konzentriert werden, wo die Tempoüberschreitungen und die Unfälle häufig sind. Auch der Bund ist gefordert. Überfällig ist zum Beispiel eine Anpassung des Bußgeldes bei Verkehrsdelikten an die EU-Standards.
Bei der Präventionsarbeit wird zeitgemäße Mobilitätserziehung wichtig. Sicherer Verkehr ist nur möglich, wenn alle Verkehrsteilnehmer sich darum bemühen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Verkehr keine Erscheinung ist, auf die man sich einzustellen hat. Er ist ein von uns gemachtes und veränderbares Produkt. Der Übergang von der klassischen Verkehrserziehung, die den Schwerpunkt auf das Lernen von Verkehrsregeln legt, zur Mobilitätserziehung ist ein wesentlicher Schritt zu dieser Erkenntnis.
Auch mehr Beteiligung kann weiterhelfen. Vor allem die Interessen der Kinder sind bei der Planung von Straßen und Wohnumfeld viel stärker zu berücksichtigen. Denn kindergerechte Straßenräume sind sicher und zugleich alten-, fußgänger- und radfahrerfreundlich. FRIEDEMANN KUNST
Der Autor ist verantwortlich für die Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.