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Archiv-Artikel

Das Naturböse

Arno Schmidts Fotografien aus Bargfeld: „Vier mal vier“

VON JAN SÜSELBECK

Schau an. Der große „Wortmetz“ Arno Schmidt fotografierte! Und zwar, ab 1964, mit einer „Yashica 44“, die ihm Hans Wollschläger zum 50. Geburtstag geschenkt hatte. Mittels dieser zweiäugigen Spiegelreflexkamera und farbiger Diafilme im seltenen Format von vier mal vier Zentimetern löste sich Schmidts Fotografieren endgültig von der Funktion eines Schreib-Hilfsmittels und wurde selbst zum Medium seiner Kunst, erläutert der Suhrkamp-Verlag die neue Edition der Arno-Schmidt-Stiftung, Bargfeld. Aus tausenden von Farbdias, die im Archiv der Stiftung lagern, traf der Archivar und Ausstellungsmacher Janos Frecot eine Auswahl von 123 Fotos, die der Band nüchtern auf weißem Grund präsentiert.

Skeptisch blättert man zwischen den Bargfelder Landschaftsbildern hin und her. War Schmidt nicht extrem kurzsichtig? Legen seine beileibe nicht immer rühmlichen Bemerkungen über bildende Kunst und Malerei nicht eher nahe, er habe genauso wahllos umhergeknipst wie Otto Normal im letzten Camping-Urlaub? Gleich ein künstlerisches Programm?

Tatsächlich gehen die meisten der hier versammelten Fotos weit über das hinaus, was ein gedankenloser Hobby-Fotograf zu leisten vermag. In der Erfassung dämonischer Wetterlagen, in dem Sinn für fast schon unwirkliche Naturfarbspiele und geometrische Landschaftsformen finden sich hier erstaunliche, teils an Gemälde erinnernde Arbeitsproben des fotografischen Beobachters Arno Schmidt.

Mag Frecot bewusst von einer Parallelisierung literarischer Arbeiten Schmidts mit seinen Fotomotiven absehen, kann sich der mit den Texten Schmidts vertraute Betrachter manchen unwillkürlichen Assoziationen kaum entziehen. Eine düstere Zypresse im nebelverhangenen Wald wirkt wie eine dunkle Erinnerung an romantische Erzählungen Friedrich de la Motte-Fouqués, jenes literarischen Ahnherren, den der junge Schmidt so abgöttisch verehrte und so oft zitierte; Alice Schmidt, im Badeanzug einen Bach durchstaksend, evoziert die Erzählung „Die Wasserstraße“ (1963), und ein unbekannter Mann, dessen Gesicht zwischen den flächigen Blättern einer meterhohen Sonnenblume hervorlugt, zitiert das Motiv in Bäume verwandelter Menschen, wie es in „Zettels Traum“ (1970) und auch noch in dem Spätwerk „Die Schule der Atheisten“ (1972) so wichtig werden sollte.

Meistens aber ist die Natur, die Schmidt hier beobachtet und manchmal geradezu mikroskopisch genau auf seine Filme bannt, menschenleer. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz hat bereits vor Jahren darauf hingewiesen, dass die von Schmidt fast schon obsessiv fotografierten leeren Freibäder, ein Motivkomplex, der in den vorliegenden Band leider keinen Eingang gefunden hat, etwas von bereinigten Tatorten an sich hätten. Der auch in Schmidts literarischem Werk immer wieder zentrale radikal misanthropische Wunsch, die Welt endgültig entvölkert zu sehen, hat, zumal im unwillkürlich sich einstellenden historischen Zusammenhang mit der Schoah, etwas Unheimliches an sich.

Schmidts Blick auf die Natur ist gnostisch, er sieht also in ihr die Zerstörung und die Grausamkeit als bestimmendes Moment. Das Lebensprinzip ist hier das Böse: Das wüst aufgestülpte Wurzelwerk eines umgestürzten Baums sieht, von erdigen Brauntönen ins Grau-Bläuliche hinüberschimmernd, ganz plötzlich so aus wie das sezierte Nerven- und Adergeflecht einer menschlichen Leiche. Gallwespen martern Hagebutten. Krebsgeschwüre zerfressen Birken, die sich trotzig und wie zum Hohn ins Licht des blassblauen Frühlingshimmels dehnen.

Dieser Band vermittelt eine Ahnung davon, wie wichtig die mit dem Tageslicht, dem Wetter und den Jahreszeiten ständig wechselnden Erscheinungen der Landschaft für den Schriftsteller Schmidt waren, der sich 1955 einmal zur „Gruppe der großen Topographen“ rechnete, „bei denen der Mensch in Landschaft, Wind und Gewitter steht; den die hochkreisende Sonne verbrennt; der im Boot über den Dümmer treibt; der von der eisenbahnschienenhaft zusammenlaufenden Pappelallee ergriffen wird, wie vom Bild der heranschreitenden Geliebten“. Andererseits konnte er seine Figur Daniel Pagenstecher in „Zettels Traum“ über extrem ausdauernde Landschaftsbeschreiber wie Adalbert Stifter „mit ihrem bißchen Fantasieren“ rüde schimpfen lassen, dass sie „gánz arme = dumme Würstchen sind […]. Die Realität ist so reich & anregnd, daß jene Schwätzer sich ihre ‚erdichteten Landschaften‘ dorthin schteckn solltn, wohin se gehör’n.“

Man sollte also Schmidt nicht vorschnell in Schubladen einordnen. Das gilt selbstredend auch für seine Fotos. Frecot beherzigt diese Vorsicht und überlässt es mittels der nüchternen Präsentation der Motive dem Rezipienten, sich selbst „ein Bild“ zu machen.

Arno Schmidt: „Vier mal vier“. Fotografien aus Bargfeld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 124 Seiten, 49,90 Euro