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Archiv-Artikel

Das Murmeln der Realität

Junge Islamisten, die Sci-Fi-Romane schreiben wollen, Mädchen, für die das Bekenntnis zum Kopftuch Zeichen für individuelle Selbstbestimmung ist: Orhan Pamuk zeichnet in seinem grandiosen Roman „Schnee“ das Bild einer widersprüchlichen Türkei

Orhan Pamuk bedient sich ausgiebig im Stilbaukasten der Weltliteratur

VON TOBIAS RAPP

Jeder Istanbuler Haushalt, der etwas auf sich hielt, so Orhan Pamuk in seiner vor einigen Wochen im New Yorker veröffentlichten autobiografischen Skizze „Pamuk Appartements“, hatte in den Fünfzigerjahren ein Wohnzimmer. Eingerichtet nach europäischem Vorbild, mit einer Sitzecke, Glasvitrinen voller Kristallgläser und teurem Porzellan, einem Klavier und Bücherregalen. Ein Wohnzimmer aber, das das ganze Jahr leer stand, richtete es sich doch an einen hypothetischen Besuch als Beweis für die eigene Westorientierung.

Es ist eine Erzählung, die sich liest wie eine persönliche Fußnote zu Pamuks neuem Roman „Schnee“ – sie ist wohl auch als solche gedacht, war der Roman doch in den USA einer der Überraschungserfolge des vergangenen Sommers und eines der Bücher des Jahres in der New York Times. Tatsächlich reißt Pamuk in ihr das Thema von „Schnee“ an: das widersprüchliche Erbe des Kemalismus. Denn die Säkularisierung und Westorientierung, so wie Pamuk sie beschreibt, mögen dem Land einmal von seinen Eliten aufgezwungen worden sein – 66 Jahre nach Atatürks Tod sind sie der Türkei so tief ins Selbstverständnis eingesunken, dass sich selbst die der Verwestlichung scheinbar entgegengesetzten Traditionen nur auf ihrer Basis artikulieren können.

Ka, ein Dichter, der Jahre im Frankfurter Exil zugebracht hat, kehrt in die Türkei zurück und bekommt von einer Zeitung den Auftrag, sich in die ostanatolische Stadt Kars zu begeben, um eine Welle von Selbstmorden junger Frauen zu recherchieren. Dahinter stecken die so genannten Kopftuch-Mädchen, eine islamistische Gruppierung, die versucht, das Tragen von Kopftüchern an Schulen und Universitäten durchzusetzen – einige der Mädchen gehörten ihr an. Ka wird Zeuge, wie ein Islamist den Rektor der örtlichen Universität erschießt. Es ist Winter, und da die Stadt eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten ist, nutzt eine Gruppe Kemalisten die Gelegenheit, zu putschen.

Nun funktioniert kein großer Roman als Ideendrama, auch „Schnee“ nicht. Deshalb ist das Buch auch ein Liebesroman, eine Erzählung über die Schwierigkeiten der Migration, eines über die schmerzliche Selbstfindung eines Dichters. Und nicht zuletzt erzählt es auch die Geschichte einer verlorenen Generation von ehemaligen Aktivisten der radikalen türkischen Linken der Siebzigerjahre, die sich in blutigen Kämpfen gegen einen übermächtigen Gegner aufrieben und nun verstreut über verschiedene Länder und Schichten versuchen, dieser Vergangenheit Quäntchen individuellen Sinns abzugewinnen. Doch die Folie, vor der all dies stattfindet, ist das nationale Drama der Türkei.

Pamuk lässt seinen Protagonisten durch die verschneiten Straßen von Kars wandern, er trifft einen alten Kommunisten, der den Umstand, dass seine Tochter eine Islamistin ist und ein Kopftuch trägt, als Protest gegen das Establishment zu tolerieren weiß. Er lernt den Herausgeber der Lokalzeitung kennen, der durch seine guten Kontakte zu den Autoritäten immer schon vor Redaktionsschluss genügend Informationen hat, um zu wissen, was nach Drucklegung passieren wird. Und, als bizarrste Figur, den Anführer des Putsches, einen radikal kemalistischen Schauspieler, der den Aufruhr nach der Aufführung eines Theaterstücks nutzt, um die Macht zu übernehmen, und für den eine an Brecht geschulte politische Aufgabe des Theaters Motivation genug ist, um als Teil der Inszenierung ungestört Islamisten und kurdische Nationalisten foltern und umbringen zu können.

Es ist eine surreale Landschaft, durch die Ka streift, bevölkert mit jungen Islamisten, die gerne Science-Fiction-Romane schreiben würden, Mädchen, für die das Bekenntnis zum Kopftuch Zeichen für individuelle Selbstbestimmung ist, und Autoritäten, für die die westlichen Werte nichts als Ausrede zum blutigen Machterhalt sind. Und mittendrin Ka, doppelt verwestlicht durch seine Istanbuler Herkunft und sein Frankfurter Exil und ein wandelndes Über-Ich sowohl für die Islamisten als auch für die Putschisten – und dabei selbst höchst verunsichert: aus Istanbul musste er wegen seiner politischen Aktivitäten fliehen, ohne in Deutschland je wirklich angekommen zu sein. Mühsam hat er sich dort mit Lesereisen durch türkische Kulturvereine durchgeschlagen. Der einzige Ort, an dem er sich in Frankfurt zu Hause fühlt, ist die Bibliothek, wo er die Poesie der westlichen Moderne studiert. Tatsächlich bedient sich auch Pamuk ausgiebig im Stilbaukasten der Weltliteratur, vom magischen Realismus des García Márquez bis zu den russischen Romanciers des 19. Jahrhunderts.

Dass Pamuk in der Türkei einen Roman veröffentlichen kann, in dem der Erzähler alle paar Seiten en passant bemerkt, welches Haus vor dem Völkermord einmal armenisch gewesen sei, aber aus Angst um seine Sicherheit seine Lesereise durch Europa absagt, weil ein Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger, in dem er Ähnliches sagt, für einen Sturm der Entrüstung in der Türkei sorgt, kommt einem nach der Lektüre von „Schnee“ wie ein den Roman bestätigendes Murmeln der Realität vor.

Orhan Pamuk: „Schnee“. Aus demTürkischen von Christoph K. Neumann.Carl Hanser Verlag, München 2005, 520 Seiten, 25,90 €