: Das Montagsinterview„Es geht ja immer wieder um das Ego“
Der Bremer Slawist Wolfgang Schlott saß in der DDR im Gefängnis. Doch auch den Kapitalismus hält er für fragwürdigWIDERSTAND ODER ANPASSUNG Als junger Mann machte sich Wolfgang Schlott über die DDR lustig, beim Versuch zu fliehen wurde er festgenommen. An der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen wurde er bespitzelt und Sascha Anderson meldete ihn der Stasi. Ein Gespräch über die Möglichkeiten von Zivilcourage
■ Geboren in Suhl / Thüringen. Arbeitete unter anderem in der Landwirtschaft, Studium der Slavistik und Anglistik in Leipzig. Wurde 1971 wegen Republikflucht zu 18 Monaten Haft verurteilt.
■ Freigekauft von der Bundesrepublik, studierte Schlott Südslavistik, Bohemistik, Soziologie, Filmästhetik, Kunstgeschichte und Latinistik in Bremen, Münster und Konstanz.
■ Promovierte 1979 mit einer Arbeit zur Lyrik Ossip Mandelstams. Seit 1984 arbeitet er an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, 1992 habilitierte er sich mit einem Thema zur polnischen Prosa nach 1945.
■ Außerordentlicher Professor für neuere slavische Kultur- und Literaturgeschichte an der Uni Bremen seit 2002. Seit 2006 ist Schlott Vorsitzender des Exil-PEN, der sich für politisch verfolgte SchriftstellerInnen einsetzt.
INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF
Herr Schlott, würden Sie sagen, dass Sie in der DDR ein Widerständler waren?
Wolfgang Schlott: Wir waren drei Kommilitonen, die keine großen Heldentaten vollführt haben, sondern eher kleine subversive Aktionen. Der eine war ein streng gläubiger Katholik, der andere Protestant aus dem Erzgebirge. Wir bekamen Disziplinarverfahren, weil wir uns lustig gemacht hatten über Disziplinierungsmaßnahmen bei der Vorbereitung auf so ein genanntes fröhliches Jugendtreffen, und wir haben da und dort heimlich Losungen im slawistischen Institut angebracht. Das führte dazu, dass alle Studenten ihre Empörung in Protestnoten formulieren mussten. Wir haben die Frechheit besessen und sind in die Aufklärungskommission gegangen.
Was waren das für Parolen?
Etwas wie: „Das Institut wird umgetauft in ideologische Samenbeschauanstalt“. Später habe ich beim Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten Losungen an die Bäume angebracht. Gott sei Dank habe ich das nur einmal gemacht, denn in der nächsten Nacht patrouillierten Angehörige der Betriebskampfgruppen und freiwillige Staatsbürger, SED-Genossen, durch die Straßen.
Ihr Werdegang war ein ganz anderer als der Ihrer späteren Kollegen an der Bremer Uni.
Ich durfte nicht studieren, weil meine Verwandtschaft im Westen war. Ich habe als Kraftfahrer und in der Landwirtschaft gearbeitet, fast wäre ich ausgebildeter Landwirtschaftsverwalter geworden. Später, nach meiner Übersiedlung in die Bundesrepublik, habe ich eine akademische Karriere gemacht, so eine Seiteneinstiegsgeschichte.
Haben Sie den Kontakt in die DDR dennoch behalten?
Ich war oft in Leipzig und Ost-Berlin. Dort war ich einmal mit Sascha Anderson zu einem Rundgang durch den Prenzlauer Berg verabredet. Am Ende habe ich zu ihm gesagt: „Über diese subversive Kulturszene müsste man doch eine Studie schreiben.“ Als ich das nächste Mal wieder nach Ost-Berlin reisen wollte, hatte ich Einreiseverbot. Später fand ich in meiner Akte in der Gauck-Behörde eines der vielen Pseudonyme von Sascha Anderson, der einen Bericht über mich angefertigt hatte. Ich habe ihn dann 1991, nachdem die ersten Enthüllungen über ihn veröffentlicht wurden, hier in Bremen getroffen. Es war völlig hirnrissig, er reagierte gar nicht auf meinen Vorwurf, sondern fing an, dumme Sachen zu erzählen.
Was für Sachen?
Er sagte, dass er auch im Knast gewesen sei und fing an, irgendwelche Onanierszenen von dort zu erzählen. Bespitzelt wurde ich dann auch an der Bremer Uni, wo ich für Polen zuständig war und die Samisdat-Forschung, also die nicht systemkonformen Schriften, bearbeitete. Aber unser Direktor hat es bis heute nicht für nötig befunden, die Akten anzufordern.
Wer hat in der DDR denn Mut bewiesen?
In den 70er Jahren nach Biermanns Ausweisung waren es die arrivierten Autoren, deren Bücher auch in Westeuropa publiziert wurden – die weniger bekannten Autoren hatten, mit wenigen Ausnahmen, diesen Mut nicht. Und das DDR-Regime war sehr anfällig, was das Renommee der großen Autoren betraf, weil viele der Verlage auf die West-Lizenzen angewiesen waren.
Nach Ihrer Verhaftung wegen Republikflucht sind Sie im Gefängnis einem Physiker begegnet, der Sie besonders beeindruckt hat.
Das war Dietrich Koch, der in den Fall mit dem Plakat verwickelt war. Zur Eröffnung des Bachfestivals im Gewandhaus Leipzig hatten Freunde von ihm mit Hilfe eines Weckers einen Mechanismus entwickelt, der in dem Moment, in dem die Fernsehübertragung begann, ein riesiges Plakat herunterrollen ließ. Darauf stand: „Wir fordern den Wiederaufbau der Universitätskirche Leipzig“. Koch wurde dann wegen einer anderen Geschichte, der Verbreitung von Flugblättern, von jemandem denunziert, den man im Knast weichgekocht hatte. Er war neun Monate in Einzelhaft, bevor er gerade zu mir in die Zelle kam. Ich saß immer alleine da, wahrscheinlich hielten sie mich für ziemlich blöd und dachten, den Koch können wir ja zu dem Trottel stecken. Und dann hat er mir im Flüsterton die Geschichte erzählt.
Koch hatte neun Monate in Einzelhaft verbracht.
Wissen Sie, was das bedeutet?
Nein.
Ich wusste es damals auch nicht. Ich hatte gerade mal zweieinhalb Monate abgesessen bis zu diesem Zeitpunkt. Und das ist auch schon ganz schön hart. Es war ein richtig mittelalterlicher Knast bei der Stasi in Leipzig. Die Zelle war eineinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter lang, ein oder zwei Pritschen, ein Klo – das war’s.
Es redete den ganzen Tag niemand mit einem?
Nein. Es sei denn, man wird zum Verhör gebracht. Es gibt ja nur Nummern, eine Anrede wird sowieso nicht gepflegt. Da und dort bekam man bei guter Führung das Neue Deutschland.
Haben Sie später mit anderen über Ihre Erfahrungen in der Haft gesprochen?
Ich habe 1971 an der Reformuniversität Bremen zwei Semester studiert und hatte dort Gelegenheit, mit DKP-Professoren aus dem Studienbereich Jura zu reden. Ich kam direkt aus dem Gefängnis und erzählte ein wenig über die Gerichtsverfahren, bei denen man keinen Verteidiger hat, beziehungsweise er nur auftaucht, wenn man die Chance hatte, in die Bundesrepublik abgeschoben zu werden. „Interessant“, sagten die Professoren. „Wie haben Sie das verarbeitet? Sie gingen überhaupt nicht auf das Gerichtsverfahren ein, die Juristen haben nicht gefragt, wie es sein konnte, dass ich zweimal für den gleichen Sachverhalt, nämlich versuchte illegale Grenzüberschreitung in Rumänien, verurteilt wurde.
War die kritische Distanz zur DDR in Ihrem Elternhaus angelegt?
Nicht unbedingt. Mein Vater kam 1948 aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurück und versuchte sich zu arrangieren. Er war Mitglied der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Widerstand bin ich am ehesten im Umkreis der protestantischen Kirche begegnet – wobei ich selbst kein überzeugter Christ bin, sondern Pantheist. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, zu überprüfen, ob man in bestimmten Situationen richtig handelt, im Gruppen-Gespräch, was ja eine Diktatur immer wieder unterbinden will.
Was kann man aus dieser Diktatur lernen?
Man kann sehen, wie eine Diktatur Angst erzeugt und man kann den Widerspruch erkennen zwischen der staatlichen Ideologie und der sozialen Realität. Und man kann versuchen, zu verstehen, warum eine überwältigende Mehrheit erstarrt ist, sich anpasst, auch feige ist in Situationen, wo man gar nicht feige sein muss. Aber es geht ja immer wieder um das Ego, die bedrohten Dimensionen der eigenen Existenz – das sehen wir ja auch im Kapitalismus, wo wir Tag für Tag gezwungen werden, an das Überleben zu denken, einen Arbeitsplatz zu verteidigen.
Wo ist Ihnen Zivilcourage begegnet?
Ich habe Leute bewundert, die ich im Knast getroffen habe, die über Jahre hinweg Flugblätter produziert haben, die involviert waren in kleinere oder größere Störaktionen und dafür Monate in Untersuchungshaft verbracht haben. Ich habe aber auch Leute getroffen, die verbittert darüber waren, dass sie drei Jahre bekommen haben für einen politischen Witz. Das war die DDR-Justiz Ende der 60er Jahre. Später waren die Strafen etwas milder, dafür war der psychologische Druck viel, viel größer. Wenn man Häftlinge auf Bewährung entließ, mussten sie sich regelmäßig bei den zuständigen Behörden melden, außerdem wurden sie ohnehin von den Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, meist Arbeitskollegen, überwacht.
Ist Ihr Engagement für den Exil-PEN, in dem sich Schriftsteller vereinigt haben, die vor Diktaturen geflohenen sind, eine Art Dank, dass Ihnen ein längerer Aufenthalt unter diesen Bedingungen erspart blieb?
Bestimmt. Aber es geht mir auch um ein Engagement in der Demokratie, die anfällig geworden ist, vor allem aufgrund der Tatsache, dass ihre Legitimation schwieriger geworden ist. Die Finanzsysteme kollabieren, die Parteien sind schwach und der Kapitalismus ist ein in sich fragwürdiges System, das nicht unbedingt demokratische Entwicklungen fördert.