Das Montagsinterview: „Hamburg ist ein Schlusslicht“
Für die Hamburger Künstlerin HM Jokinen wird die Kolonialgeschichte viel zu wenig aufgearbeitet.
taz: Frau Jokinen, am Donnerstag beginnt an der Universität Hamburg die Konferenz zu den Erinnerungskulturen des Holocaust und des transatlantischen Sklavenhandels. Spielt sich die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte vor allem an Hochschulen ab?
HM Jokinen: Kolonialgeschichte wird heute zunehmend akademisch geforscht. Es gibt aber auch postkoloniale Initiativen, die das Thema bundesweit in die Öffentlichkeit bringen.
Wie oft stoßen Sie in Hamburg auf die Spuren des Kolonialismus?
Täglich, in meinem Stadtteil Altona etwa die Donner- und Nöltingstraße, die Van-der-Smissen-Straße oder die Christianskirche. Diese Namen ehren Profiteure des Sklavenhandels. In der Stadt gibt es die koloniale Infrastruktur, die unkommentiert geblieben ist. Während der Konferenz werde ich in Wandsbek eine Performance auf den Spuren Heinrich Carl Schimmelmanns machen.
Einem im 18. Jahrhundert einflussreichen Sklavenhändler, der noch heute im Bezirk als Wohltäter geehrt wird. Ich versuche, die Stadt anders zu lesen, dazu gehören auch die Biografien der sogenannten Kammermohren, die Schimmelmann in Wandsbek dienen mussten.
Sie konfrontieren die Stadt mit ihrer Geschichte. Wie gehen Sie vor?
Im Projekt „Afrika–Hamburg“ habe ich das im Keller deponierte Denkmal für den Kolonialgouverneur Wißmann rausgeholt, für 14 Monate am Hafentor ausgelüftet und in einem Internetdebattenforum diskutieren lassen. Die Resonanz hat alle meine Erwartungen übertroffen und es wurde kontrovers diskutiert.
62, ist bildende Künstlerin und Kuratorin. Sie kommt aus Finnland und lebt seit 1977 in Hamburg. Jokinen ist Mitglied des Arbeitskreises Hamburg Postkolonial, der under anderem die Umbenennung/Kommentierung von kolonialen Straßennamen fordert. Sie ist Ko-Kuratorin der Ausstellung Freedom Roads, die im Herbst 2013 nach Hamburg kommt.
Was ist das Künstlerische daran?
Ich ging zunächst vom Bild dieses artefact trouvé aus. Die historische Information erfolgte erst im zweiten Schritt, im Internet. Das Denkmalensemble wurde mehrmals gestürzt, es ist beschädigt und so zu seinem eigenen Gegendenkmal geworden. Diese Dekonstruktion setzte ich fort.
Warum gerade dieses Denkmal?
Das Denkmalensemble zeigt die Bronzefigur von Hermann Wißmann, dem Gouverneur der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, und die Skulptur eines afrikanischen Askari-Soldaten, der zu „seinem weißen Herrn“ emporblickt und einen toten oder schlafenden Löwen und eine Fahne. Das Monument hat eine skurrile Geschichte: Es ist durch Epochen und zwischen Kontinenten gereist.
In Berlin gegossen, 1908 in Dar es Salaam aufgestellt, nach dem Ersten Weltkrieg durch die Briten als Plakatsäule benutzt, dann als „Kriegsbeute“ nach London gebracht, wurde es 1922 vor der Universität Hamburg, dem ehemaligen „Kolonialinstitut“, aufgestellt. Die Wißmann-Figur wurde mal verehrt, mal verachtet und mehrere Male vom Sockel geholt.
Wann war das genau?
1945 von britischen Bombern und dann 1967/1968 von APO-Studenten. Anschließend wurde es ins Depot der Sternwarte Bergedorf gebracht. 2002 entdeckte ich das Denkmal im Keller und war fasziniert von seiner Geschichte, die sich an der beschädigten Haut nachvollziehen lässt: Sein Stiefel war angesägt, die Jacke mit roter Farbe übergossen, der Tropenhelm angedellt, der preußische Säbel geklaut.
Wie reagierten die Hamburger, als Sie Wißmann am Hafen aufgestellt haben?
Es wurde zum Beispiel kritisiert, dass Menschen vor dem Wißmann-Denkmal auf „falsche“ Gedanken kommen könnten. Ich finde das abwegig, denn Menschen könnten ja ebenso vor den zugänglichen Kolonialdenkmälern, vor dem Bismarck-Denkmal „falsche“ Gedanken haben.
Interessanterweise gab es Kritik von ganz rechts und ganz links, aber auch Zustimmung. Auf der Webseite stimmten 95 Prozent der Beteiligten dafür, dass unbeliebte Denkmäler nicht versteckt werden sollten. Man möchte sich an ihnen „reiben“.
Hamburg präsentiert sich gerne als weltoffene Metropole.
Die Stadt pflegt aber ihren kolonialen Habitus ungebrochen weiter: In der Hafencity werden aller Kritik zum Trotz Gebäude nach Kolonialwaren benannt, neue Straßen und Plätze nach Welteroberern. Und: Es gibt bis heute keine spezifische Erforschung der Beteiligung Hamburgs am transatlantischen Sklavenhandel.
Die Familien, die ihr Geld in den Kolonien verdient haben, sind noch heute einflussreich. Es ist ja auch eine Frage, wer in einer globalisierten Stadtgesellschaft bestimmen darf, welche Erinnerungskultur wo stattfinden darf. Wer hat die Deutungshoheit?
Gab es konkrete Probleme, Ihre Arbeit umzusetzen?
In der Zeit der Schill-Regierungsbeteiligung hat die Kultursenatorin Dana Horáková das Konzept in der Schublade verschwinden lassen. Für die Projektrealisierung brauchte es einen Regierungswechsel. Und der vorgesehene Standort in der Hafencity wurde nicht bewilligt.
Inwiefern kann das Hervorholen der Geschichte schon ein anderer Umgang mit ihr sein?
Zentral ist die Frage nach der Kontextualisierung. Heute sind die sozialistischen Denkmäler in Budapest im Szobor-Park versammelt. Sie vermitteln jetzt andere Botschaften, indem sie mit ihrem Gestus nicht mehr das Volk begrüßen, sondern einander. In Hamburg gibt es Kolonialdenkmäler, die insofern ungewöhnlich sind, als dass sie die vermeintliche Hierarchie zwischen Schwarzen und weißen Menschen rassistisch ins Bild setzen.
Solche Denkmäler gibt es weder anderswo in Deutschland noch in den ehemaligen deutschen Kolonien. Mein Konzept eines „Park postkolonial“ folgt der Idee, diese Denkmäler an einem zentralen Ort zu versammeln und afrikanische, afrodeutsche und deutsche KünstlerInnen einzuladen, sie in einem Work in Progress immer wieder zu verändern. Eine Geschichtswerkstatt würde die städtischen Kolonialspuren erforschen und vermitteln.
Arbeiten Sie auch mit der Black Community zusammen?
Ich bin bundesweit und auch in Ghana vernetzt und arbeite mit Schwarzen KünstlerInnen zusammen. Ich hoffe, dass es uns auch in Hamburg gelingt zu kooperieren. Beim sogenannten Tansania-Park in Jenfeld hat der Bezirk einen weißen Beirat für die Entwicklung eines Erinnerungskonzepts eingesetzt. Kritische Stimmen wurden nicht zugelassen. Wenn Hamburg es ernst meint mit postkolonialen Erinnerungsorten, müssen selbstverständlich vor allem Schwarze Menschen beteiligt werden. Und für diese Arbeit müssen Fördermittel bereit gestellt werden.
Sie waren auch an der Künstleraktion gegen das Tamm-Museum beteiligt.
Die Präsentation des Tamm-Museums ist imperial und eurozentrisch, die Darstellung des transatlantischen Sklavenhandels rassistisch. Aber auch andere historische Museen in Hamburg, mit Ausnahme des Museums der Arbeit, pflegen einen eher unreflektierten Umgang mit dem Thema.
Ein Beispiel?
Im Hamburg-Museum hängt in einem Raum für Musikinstrumente ein Gemälde einer musizierenden Gesellschaft. Genannt werden alle Abgebildeten, der „Kammermohr“, der in der Bildmitte Früchte serviert, bleibt unkommentiert. Er scheint einfach nicht zu existieren. In einer weiteren Museumsabteilung werden „Kolonialwaren“ ausgestellt und ihre zentrale Bedeutung für Hamburgs Handel beschrieben. Ausgeblendet werden die Folgen des Ressourcenraubs für die Kolonisierten. Auch hier steht ein sogenannter „Tabakneger“ in der Ecke, unkommentiert.
Und auch ein Gang durch das Völkerkundemuseum zeigt viele Wahrnehmungs- und Gedächtnislücken. Im Rahmen der Konferenz wird es dazu unter dem Titel „Eurozentrismus, Provinzialismus und/oder Kosmopolitismus in einer Museumsausstellung?“ einen Rundgang durch die Kunsthalle geben.
In der Erinnerungskultur wird oft eine Linie gezogen zwischen damals und heute.
„Normal“ war der Sklavenhandel und die Kolonialmacht für die Opfer nie. Und es gab schon lange vor der Aufklärung gewichtige Kritiker. Bald erhoben sich auch die Stimmen der befreiten Schwarzen Menschen gegen das koloniale Unrecht. Wir brauchen einen Perspektivwechsel weg vom eurozentrischen Blick, um auch zu erkennen, dass es heute koloniale Kontinuitäten gibt.
Für Ihre Arbeiten sind Sie auch nach Afrika gereist.
Ich habe mich für die Spuren Wißmanns in Tansania interessiert und dort mit Studierenden gearbeitet. Dann wurde ich nach Ghana eingeladen, wo ich mit den dortigen KollegInnen die Hinterlassenschaften Schimmelmanns erforscht und ausgestellt habe. Letztes Jahr bin ich in Ghana den Wegen des illegalen Imports von Elektroschrott nachgegangen, für den Hamburgs Hafen eine Drehscheibe ist.
Der Computermüll hat in Accra zu einer immensen Umweltkatastrophe geführt: Kinder und Jugendlich aus armen Familien verbrennen die Plastikteile, um Metall zu gewinnen. Weite Teile der Stadt sind kontaminiert, auch die Küste vor Accra, sodass es kaum noch Fisch gibt. Und der klägliche Rest wird weiter draußen von Hochseeflotten der reichen Nationen gefischt.
Wie schneidet Hamburgs Aufarbeitung verglichen mit anderen europäischen Städten ab?
In Amsterdam steht ein Antisklaverei-Denkmal, in Liverpool eröffnete 2007 ein hervorragendes Slavery Museum. In diesem Jahr hat Nantes ein Antisklaverei-Memorial und einen Erinnerungspfad eingeweiht und eine Ausstellung im Museum eröffnet. Und Hamburg? Bei uns wurde 2006 ein neues Denkmal zu Ehren des Sklavenhändlers Schimmelmann eingeweiht. Gut ist, dass die Büste, wegen der vielen Proteste, schon 2008 wieder geräumt wurde. Hamburg ist wirklich ein Schlusslicht in der postkolonialen Erinnerungskultur.
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