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Archiv-Artikel

Das Minimum des Lebens

In der Niedriglohnfrage werden Hartz-IV-Empfänger und Erwerbstätige gegeneinander ausgespielt. Auch aus diesem Grund brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn

Noch bei einem Stundenlohn von 7,20 Euro brutto gibt es einen Anspruch auf auf-stockendes ALG II

Die Richter am Sozialgericht Berlin wollten ein Zeichen setzen. Knapp 6 Euro brutto die Stunde für einen Vollzeitjob als Hauswirtschaftshilfe – das galt ihnen als Verstoß gegen das Grundrecht auf Menschenwürde. Die allein erziehende Mutter dürfe von der Arbeitsagentur deswegen nicht zu diesem Job gezwungen werden. Denn niemand müsse für ein Entgelt arbeiten, das nicht höher liege als die Sozialhilfe, so die Richter in einem kürzlich ergangenen Urteil zu einem Fall aus dem Jahre 2004.

Das Urteil, das von höheren Instanzen noch kassiert werden kann, birgt Sprengstoff. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie hoch ein Arbeitsentgelt in Deutschland sein muss, damit man ein menschenwürdiges Leben führen kann. Längst wird der Streit um Niedriglöhne von neoliberaler Seite mit der Frage verknüpft, wie hoch denn im Gegenzug das vom Staat gewährleistete Existenzminimum sein dürfe, um nicht die Arbeitsmoral zu verringern.

„Hartz IV zu hoch“, verkündete die Bild-Zeitung unlängst und präsentierte dazu Rechnungen, nach denen das Arbeitslosengeld (ALG) II abgesenkt werden müsse, um noch die Proportion zu den Niedrigverdienern zu wahren. Sind Erwerbstätige, die für 7 Euro brutto als Leiharbeitnehmer in Lagerhallen schuften, die Sozialidioten, während Hartz-IV-Empfänger auch dank Schwarzarbeit ein lockeres Leben führen? Die Front zwischen Steuer- und Beitragszahlern einerseits und den Empfängern von Transferleistungen andererseits wird auch von den Arbeitgebern gern mit Munitionsnachschub versorgt. Es ist immer einfach, Schwache gegen Schwache aufzuhetzen.

Diese Front profitiert von der kalten Logik der sozialen Sicherung: Immer dann, wenn die Arbeitsmarktlage schwieriger geworden ist und die Arbeitslosenzahlen steigen, verschlechtern sich auch die Bedingungen auf dem Jobmarkt, und die Ressentiments gegen die nicht erwerbstätigen Leistungsempfänger wachsen. Doch diese Front der Schwachen lenkt ab von ganz anderen Verteilungsproblemen. Längst gibt es nämlich in Deutschland einen Niedriglohnsektor, der von anderen Erwerbstätigen subventioniert wird. Und dagegen regt sich bisher kein nennenswerter Protest.

Knapp eine Millionen Vollzeitbeschäftigte ackern in Deutschland zu einem Niedriglohn, der im Westen unter 7,40 Euro, im Osten unter 5,40 Euro brutto liegt, so die Zahlen des Instituts Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. So schlecht kann die Arbeitsmoral in Deutschland also gar nicht sein. Ein überproportional großer Anteil dieser Kleinverdiener sind Frauen. Hinzu kommen noch einmal 1,6 Millionen Menschen, die zu diesen Stundenentgelten in Teilzeit oder in Minijobs Büros putzen, am Tresen bedienen oder Zeitungen austragen.

Regalauffüllerinnen im Handel in Berlin beispielsweise verdienen 5 Euro brutto die Stunde. Diese Tätigkeiten werden oft als Teilzeitjobs von Ehefrauen ausgeübt, die aufgrund des Einkommens des Mannes keinen eigenen Anspruch haben auf Arbeitslosengeld II. Millionen Ehemänner subventionieren also indirekt die miesen Löhne ihrer Ehefrauen im Dienstleistungsbereich. Bei den Minijobs zahlen ohnehin alle anderen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten unfreiwillig mit, da für diese Jobs kaum Abgaben fällig werden.

Doch es gibt noch andere Quersubventionierungen: Viele Schlechtverdiener beziehen aufstockendes Arbeitslosengeld II. 900.000 EmpfängerInnen von Hartz IV sind erwerbstätig, die meisten davon in Teilzeit, so ergab eine neue Erhebung der Bundesagentur für Arbeit. Die Statistiken zu Niedriglöhnen lassen vermuten, dass darüber hinaus hunderttausende von Kleinverdienern ihren Anspruch auf staatliche Aufstockung gar nicht geltend machen.

Noch mit einem Stundenlohn von 7,20 Euro brutto hat ein Vollzeitbeschäftigter im Westen Anspruch auf ein bisschen aufstockendes Arbeitslosengeld II, sofern er oder sie über keinen gut verdienenden Partner verfügt. Ab 1. Juli 2006 wird das Arbeitslosengeld II im Osten an das Westniveau von 345 Euro plus Miete angeglichen. Es ist zu erwarten, dass dann noch einmal hunderttausende Beschäftigte in den neuen Bundesländern in diese „Aufstockungszone“ kommen.

Die Bundesregierung hat also die Wahl: Will sie weiter zulassen, dass geringe Löhne durch andere Steuerzahler subventioniert werden und ein großer Niedriglohnbereich die Frauen diskriminiert? Oder wäre es nicht besser, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, damit die Unternehmen sich an der Finanzierung beteiligen?

Ein gesetzlicher Mindestlohn von mehr als 7 Euro im Westen, etwas weniger als 7 Euro im Osten, mit Rücksicht auf die Jobkonkurrenz durch die angrenzenden Ost-EU-Länder – das wäre ein lohnendes politisches Experiment. Aufstockende Sozialleistungen wären damit nicht automatisch überflüssig, aber die Quersubventionitis immerhin etwas abgemildert.

Käme ein solcher Mindestlohn, dürften zwar mancherorts die Preise für Dienstleistungen steigen, doch die Menschen hätten durch das höhere Entgelt gleichzeitig mehr Geld für den Konsum. Durch die höheren Personalkosten dürften die Gewinne der Unternehmen sinken. Dies muss man aber nicht fürchten. Denn auch wenn es zur Kompression der Gewinne in einzelnen Unternehmen kommt, führt das nicht zu Betriebsschließungen oder Entlassungen. Diese Erkenntnis hat das gewerkschaftseigene WSI-Institut in Düsseldorf gewonnen, als es die Erfahrungen aus EU-Ländern mit Mindestlohn (wie Großbritannien) untersucht hat.

Millionen Männer subventionieren die miesen Löhne ihrer Frauen im Dienst-leistungsbereich

Mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes gäbe es also zumindest die Chance, dass sich seit längerer Zeit wieder mal auch die Unternehmen an der Lösung des Lohnproblems beteiligen müssten und dies nicht der Allgemeinheit aufhalsen. Gleichzeitig wäre ein Mindestlohn ein psychologisches Signal: Arbeit ist etwas wert. Auch die der Politik.

Was aber ist nun mit dem Vorschlag, einfach das Arbeitslosengeld II abzusenken, um die Niedriglöhne irgendwie attraktiver aussehen zu lassen? Damit würde man zwar den Abstand von Transferleistung zu Entgelt wieder künstlich vergrößern. Doch damit würden Schwache wieder gegen Schwache ausgespielt. Und die Grundregeln der staatlichen Stütze verletzt: Das staatlich gewährleistete Existenzminimum soll laut Gesetz den notwendigen Bedarf decken und erstmal nichts mit dem Marktwert von Arbeitsleistungen zu tun haben.

Wer das Arbeitslosengeld II absenken will, muss sich zudem über die Folgen im Klaren sein: Millionen wären betroffen, nicht nur die Langzeiterwerbslosen. Denn die Höhe des Arbeitslosengeldes II gilt auch für das Niveau der Grundsicherung für Alte und Behinderte. Bevor sich Deutschland selbst ein neuerliches Verarmungsprogramm schafft, sollte man es doch mal mit dem Mindestlohn versuchen. Eindeutig die bessere Idee.

BARBARA DRIBBUSCH