: Das Licht im Grunde
■ Der Moskauer Künstler Sergej Anufriew, Mitglied der Gruppe „Medizinische Hermeneutik“, im Gespräch
Was verbirgt sich hinter Medizinischer Hermeneutik, der Moskauer Künstlergruppe, die zur Zeit im Kunstverein die „linguistische Installation“ Die goldenen Ikonen und eine schwarze Linie zeigt? Sergej Anufriew, Wladimir Fjodorow, Pawel Pepperstein sind die Medizinische Hermeneutik. Während des weltweit ersten russisch-chinesisch-deutschen Konzeptionalisten-Treffen kürzlich an der HfBK in Hamburg gab Sergej Anufriew, Vor-Denker der jungen russischen Künstlergeneration nach NOMA Auskunft. Anufriews Gedanken und künstlerische Überlegungen hatten sich an der Gruppe NOMA geschult und entwickelt, seine Arbeit denkt die Vorgaben der russischen Konzeptionalisten Kabakov und Monastarsky weiter.
Medizinische Hermeneutik verweist auf Verstehens- und Heilungsprozeße. Was gilt es zu verstehen, zu heilen?
Zunächst geht es um die Idee der totalen Untersuchung, der Inspektion. Darin spiegelt sich die alte russische Sehnsucht, alles wissen und beschreiben zu wollen, das gleichzeitig von der Sinnlosigkeit allen Tuns gezeichnet ist. Unsere Inspektion erkennt in der Sowjetunion ein zeichenhaftes Konstrukt, das Kulturideologen und Linguisten interessiert. Unsere Analyse gleicht in ihrem freien Assoziieren auch einer Art Psychoanalyse, bei der plötzlich Zusammenhänge aufscheinen, die der Logik verborgen bleiben, so wie der berühmte Satz von Lacan „Das Unbewußte ist als eine Sprache strukturiert.“ Und so gibt es in aller Kunst vergleichbare Substanzen: Zeichen, Energien, philosophische und religiöse Gedanken, die alle mit dem Transzendentalen spielen. Aber dies muß materialistisch werden und zu einer Repräsentation führen. Genau da liegt ein Problem in der Verständigung zwischen Ost und West.
Welche Rolle hat NOMA in deiner künstlerischen Entwicklung gespielt?
Bei uns in der alten Sowjetunion hat es eine sehr strenge Avantgarde gegeben. Mit Kabakov wurde ein akademisch geschulter sozialistischer Realist zum Konzeptionalisten, der durch die Literatur beeinflußt wurde. Er stand zwar gegen den sozialistischen Realismus, hatte aber noch etwas damit zu tun. Monastarsky, der Dichter, wurde Kabakovs Schüler und begann Aktionen und Visualisierungen vorzunehmen. Das spezielle Verstehen wurde Upperstanding (Zen, Satori) anstatt Understanding: die Differenzen von oben beobachten und interpretieren. Und so wurde NOMA eine Interpretationsgruppe, am ehesten dem Dadaismus vergleichbar. Die konkreten Ergebnisse und Objekte waren nie wichtig, sondern die Freiheit der Prozeße, die Evolution. Kunst und Wissenschaft gehen zusammen. Das ist der Wechsel von traditioneller, religiöser Kunst zu der neuen, philosophischen. Eine große Chance, weil es in das Zentrum des Denkens geht: Duchamp und Zen...
Wie entwickelst Du deine Position als Künstler in einer umbrechenden Gesellschaft, einer sich wandelnden politischen Welt-Situation?
Künstler sein ist eine transzendente Position zu anderen Identitäten in der Gesellschaft. Ein Künstler ist ein Künstler! Und dann ist da die Gesellschaft, das ist ein Problem von Identitäten. Was ist das Leben? Wir können es gar nicht wissen, weil wir immer in der Maschine sind, die Gesellschaft heißt. Damit existieren wir strenggenommen gar nicht, und müssen unser Leben transzendieren durch Realisierungen.
Was ist eine Realisierung?
Gegenfrage: Was ist ein Künstler, der die Substanz von Gesellschaft nicht realisieren will. Es sind die Halluzinationen, die Gestalt werden, und durch die Sprache bedingt sind. Die Energie kann nur in transzendentaler Weise transformiert und realisiert werden, damit der Botschafter, der Künstler, seine Idee nicht verliert und zum Ausdruck bringt. Wir müssen da wie Kinder sein, die nur sagen „ich möchte sein wie...“ und schon im Prozeß sind. Die sogenannten Erwachsenen haben ihre Identität verloren.
Also dreht sich alles um die Basis-Arbeit der Befreiung. Welche Haltung ist dafür notwendig?
Es geht um eine neue spirituelle Kultur: Die Kunst, warten zu lernen. Einige unserer Böden, Gründe und Wurzeln sind metaphysische Gründe. Wir sind komplett abhängig von unserer Seele, aber wir wissen zu wenig oder nichts darüber. Unser kulturell kontrolliertes Feld von Verhalten ist eigentlich sehr klein. Tao, Zen, Christentum: Das sind nur die Instrumente zur Kolonialisierung des spirituellen Bewußtseins, wir brauchen aber ein neues Bewußtsein, daß sich dem Unkontrollierten öffnet. Das Produktivste ist das Licht. Wir können negative Kräfte in Licht verwandeln, vergleichbar der Photosynthese bei Pflanzen. Und das müssen wir lernen. Der Sinn in unserem Leben ist, Licht zu produzieren. Diesen Sinn haben wir verloren, weil wir nur die Technik, aber nicht das Ziel produzieren, und damit geht die Geschichte der Menschheit zu Ende, weil sie auf einer blinden Straße wandelt.
Fragen: Gunnar F. Gerlach
Kunstverein, bis 23. Januar 94
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