: Das Leben hat einen Wert an sich
Der Sammelband „Die verdrängte Pandemie“ liest die Gesundheitskrise als diskursives Labor. Während der Coronapandemie wurde gesellschaftliche Kommunikation darüber erprobt, wo die Prioritäten liegen – und wer im Zweifelsfall überflüssig ist
Von Benjamin Moldenhauer
Während der Coronapandemie konnte man die gesellschaftlichen Zusammenhänge und seine Mitmenschen noch einmal anders kennenlernen. Das war immer wieder überraschend. Die grellsten Auswüchse waren Aufgewühlte, die ihren Unwillen, sich und andere durch eine Gesichtsmaske zu schützen, laut auf Demos kundtaten. Verschwörungsirre, die das Virus für eine Erfindung hielten und so lange an den Statistiken herumrechneten, bis es passte, während auf den Intensivstationen Menschen am Beatmungsgerät hingen und erstickten.
Von heute aus betrachtet lässt sich sagen, dass während der Coronapandemie gesellschaftliche Kommunikation darüber erprobt wurde, wo die gesellschaftlichen Prioritäten liegen und wer im Zweifelsfall überflüssig ist. Entsprechende Ideen werden seither keineswegs nur am rechten Rand ventiliert, sondern kommen aus der Mitte.
Die an Corona Verstorbenen und das Leid, das die an Long Covid Erkrankten aktuell erfahren müssen, werden dagegen heute weitgehend verdrängt. Das ist die Ausgangsthese der Herausgeber des Bandes „Die verdrängte Pandemie“. Sie diagnostizieren einen weitreichenden „Pandemierevisionismus“. Revidiert werden soll demnach alles, was an die Notwendigkeit des Schutzes der Schwachen erinnert. „Rechte verteufeln weiter mit ungebrochenem Eifer die vergangenen Eindämmungsmaßnahmen und die Impfangebote“, schreibt Paul Schuberth in seiner „sehr kurzen Geschichte der Coronapandemie“.
Schon damals richteten sich Proteste gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit, während die Wirtschaftssphäre nicht berührt werden durfte. Dass man trotz geschlossener Schulen weiter in voll besetzten Bussen und U-Bahnen ins Büro fahren musste, versetzte kaum jemanden in Aufruhr. Auch hier war die Prioritätensetzung klar: Die Arbeitswelt bleibt weitgehend intakt, das Seuchengeschehen wird derweil über die Einschränkungen des Bewegungsradius von Kindern und Jugendlichen reguliert. Während die Maßgabe, beim Einkaufen eine Maske tragen zu müssen, hingegen Affektexplosionen hervorrief.
Der Publizist Thomas Ebermann erinnert daran, dass die Schulen und der Kulturbetrieb lahmgelegt waren, die Lieferketten aber intakt blieben. „Bei der Ware Arbeitskraft ist kein Mangel aufgetreten, keine Situation eingetreten, bei der gesagt werden musste, jetzt kann nicht produziert werden, weil zu viele Menschen gerade sterben.“
Dass das eine – die Fahrt zur Arbeit – klaglos hingenommen, die Selbstbeschränkung zum Schutz der Schwächeren aber zu heftigen Protesten führte, erklärt Ebermann damit, dass „das Arbeitsethos in die Menschen eingewandert“ und „Selbstverhärtung zur Tugend erklärt worden“ sei.
Den „Sozialdarwinismus“, der sich während der Pandemie Bahn gebrochen habe, interpretiert die Politologin Natascha Strobl als „Scharnier zwischen Faschismus und Marktradikalismus“. Strobl erinnert an die Wortmeldungen, die damals in der Mitte wie am rechten Rand zu hören waren. Boris Palmer, zu jener Zeit noch bei den Grünen, schlug vor, nicht allzu viel Kosten und Mühen für Menschen aufzuwenden, die ohnehin bald sterben würden. Autoren der rechtsradikalen Zeitschrift Sezession spotteten über verwöhnte Menschen, die an Unverträglichkeiten litten und nichts mehr aushielten.
Stefan Dietl erinnert in seinem Beitrag an Nicolae Bahan, den ersten Erntehelfer, der in Deutschland an einer Covid-Infektion verstorben ist. Landwirtschaftliche Interessenverbände streuten im Verbund mit der damaligen Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner (CDU) das Gerücht, Bahan sei an einem Herzinfarkt gestorben, um die Spargelproduktion nicht zu gefährden, und erinnerten so unfreiwillig daran, dass die Produktion in der freien Marktwirtschaft eine Maschinerie ist, deren Funktionieren auf keinen Fall infrage gestellt werden darf.
Auch das zeigte sich unter Pandemiebedingungen klarer noch als sonst. „Mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung konnten die landwirtschaftlichen Betriebe die Covid-19-Pandemie nutzen, um die Mechanismen zur Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft weiter auszubauen“, schreibt Dietl. „So wurden die Erntehelfer*innen zu ‚systemrelevanten‘ Beschäftigten erklärt und mit dieser Begründung Teile des Arbeitszeitgesetzes außer Kraft gesetzt – und die bisher schon gängigen katastrophalen Arbeitsbedingungen und überlangen Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden am Tag damit legalisiert.“ Das alles war möglich, weil der kollektive Spargelkonsum auch in Pandemiezeiten zur nationalen Notwendigkeit erklärt und damit als „systemrelevant“ klassifiziert wurde.
Frédéric Valin, Paul Schuberth (Hg.): „Die verdrängte Pandemie. Linke Stimmen gegen den Pandemierevisionismus“. Unrast Verlag 2025. 296 Seiten. 19,80 Euro
Die Gnadenlosigkeit, mit der über all diese Dinge gesprochen wurde, war damals noch überraschend. Heute fällt Hendrik Streeck, damals Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung, mit der Einlassung, man solle aus Kostengründen die Vergabe von teuren Medikamenten an hochbetagte Menschen überprüfen, nicht weiter auf.
Alles das sind keine gesundheitspolitischen Diskurse im engeren Sinne, sondern Ansagen. Ein gesellschaftlicher Diskurs, der klarmacht: Das Leben hat keinen Wert an sich, wer nicht mehr produziert, aber kostet, darf gerne sterben. Es sei wichtig zu betonen, schreibt Herausgeber Paul Schuberth, dass die „wohlfeile Abgrenzung gegen Querdenker*innen natürlich dabei half, die ‚Barbarei im Demokratischen‘ (Thomas Ebermann) zu überdecken“.
Die Verdrängung, von der die Herausgeber ausgehen, greift auch auf einer subjektiven Ebene. Der Bericht des Wiener Oberarztes Wolfgang Hagen, der von Beginn der Pandemie an auf einer Covid-19-Station gearbeitet hat, wirkt wie die Beschreibung eines Szenarios, das schon ewig her ist. Was damals omnipräsent war – die Bilder von nächtlichen Militärkonvois in Bergamo, die Särge abtransportierten, die Bilder von Pflegepersonal in Schutzanzügen –, wirkt heute fremd und irreal.
Allerdings ließe sich mit den Autor*innen von „Die verdrängte Pandemie“ einwenden, dass die Pandemie keineswegs Geschichte ist, sondern bis in die Gegenwart ragt und die Zukunft vorbereitet. Der Abwehraffekt gegen das Schwache bestimmt demnach auch noch die Debatte um ME/CFS (Long Covid). Der Bremer Soziologe Wolfgang Hien hat sechs Fallgeschichten von Betroffenen zusammengefasst. Fast alle Patient*innen berichten davon, dass ihr Umfeld auf die Erkrankung verständnislos bis abwehrend reagiert hat. „Leistungsfähigkeit ist ein zentrales Kriterium, das die soziale Wertigkeit eines Menschen in der Gesellschaft bemisst“, kommentiert Hien. Wer nicht mehr leistungsfähig ist, wird sozial abgestraft, im Kleinen wie im Großen.
Ein weiterer Komplex, der in „Die verdrängte Pandemie“ eine Rolle spielt, ist die Genese von Viren, die nicht einfach als Naturereignisse oder -katastrophen erfasst werden, sondern eine Sozialgeschichte haben. Der Epidemiologe Rob Wallace sieht die Gefahr von Pandemien durch bestimmte Produktions- und Wirtschaftsweisen steigen. Die Zerstörung von Ökosystemen und die Eingriffe in Wälder und Lebensräume, die Wildtiere näher an den Menschen treiben, begünstigen die Übertragung von Viren von tierischen Wirten auf den Menschen.
Der genaue Ursprung des Sars-CoV-2-Erregers sei noch nicht abschließend erforscht, schreibt Herausgeber Schuberth, und auch die Laborthese, also der Verdacht, dass das Coronavirus in einem Labor in Wuhan entstanden ist, könne „nicht einwandfrei verworfen werden“. Doch liege es sehr nahe, dass auch bei der Entstehung der Coronapandemie „die Industrialisierung und Kapitalisierung der konventionellen Fleischproduktion in Südchina (seit der Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft) eine gewichtige Rolle spielte“.
Jeder Aspekt der Pandemie und ihrer Verheerungen wird in „Die verdrängte Pandemie“ sozial und politisch aufgefasst. Unter ihren Bedingungen zeigt sich der Normalbetrieb wie unter einem Brennglas: Wer ist entbehrlich, was muss laufen, was muss pausieren? Was verstehen die Menschen unter Freiheit, was wird verteidigt, was wird hingenommen? In der Pandemie zeigte sich auch, wie Protestformen aussehen, die es erlauben, sich als Freiheitskämpfer aufzuführen und zugleich Untertan zu bleiben. Den Herausgebern ist es gelungen, ein zugleich multiperspektivisches wie umfassendes Bild der Verheerungen der Pandemie zu zeichnen. Und zwar nicht nur der gesundheitlichen, sondern vor allem der gesellschaftlichen. Die verschiedenen Perspektiven der Autor*innen schaffen so eine Gegenerzählung zur momentan laufenden Umdeutung und Neuschreibung von Corona.
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