Das Kehrgleis ist ein Ort, der Normalsterblichen verboten ist. Ich war trotzdem da: Der Wagen des Propheten
AM RAND
Klaus Irler
Als ich das erste Mal von einem „Kehrgleis“ hörte, wusste ich nicht recht, was das sein könnte. Ich kenne das Abstellgleis und den Kehraus, letzteren erlebte ich einmal in einer Kneipe namens „D-Zug“. Vielleicht, dachte ich, ist das „Kehrgleis“ ebenfalls eine Kneipe. Ich stellte mir eine Bar mit unverputzten Wänden vor. Eine Bar mit Kerzenlicht, einer großen Weinkarte und Separees mit alten Sofas, auf denen pensionierte Priester die Beichte abnehmen. Wer die Beichte erfolgreich absolviert, darf kehrt machen, kommt auf ein neues Gleis und baut keine Unfälle mehr.
Das dachte ich mir so, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: In Wirklichkeit befindet sich das Kehrgleis am Ende der U-Bahn-Haltestelle Niendorf-Nord und ist der Ort, wo die Züge nach Betriebsschluss hinfahren und bei Betriebsbeginn herkommen. Ich dachte immer, es gäbe einen unterirdischen Bahnhof, in dem die U-Bahn-Züge übernachten. Nein, es ist ein Kehrgleis. Es besteht sogar aus vier Gleisen, an denen man auf eisernen Stegen entlanggehen kann. Die Gleise ragen hinter der Endhaltestelle noch 350 Meter lang in den Tunnel und sind schummrig beleuchtet. Auf den Gleisen werden die Züge über Nacht geparkt, auf den Stegen gehen die Zugführer nach Hause.
Spirituell betrachtet ist das Kehrgleis ein Ort, an dem es weiter geht, wenn alles vorbei ist. Ein Jenseits, das kaum jemand zu Gesicht bekommt, weil der Zutritt Normalsterblichen verboten ist. Auf das Kehrgleis kommen nur Mitarbeiter der Hochbahn. Dass ich auch da war, hat die Pressestelle ermöglicht. Dafür ein Vergelt’s Gott.
Das Kehrgleis riecht nach dem Teeröl auf den Schienen. Am Ende des Tunnels ist eine Tür in der Wand, statt eines Griffs gibt es ein Rad zum Öffnen, so, wie man das von U-Booten kennt. Neben der Tür brennen immer blaue Leuchten für den Fall, dass Menschen durch den Tunnel fliehen müssen und Rauch ihnen die Sicht nimmt.
Die Tür führt in ein Treppenhaus, in dem ein Graffiti-Sprayer „Moses“ an die Wand geschrieben hat. Ich habe geschaut, ob die zehn Gebote auch an der Wand stehen. Tun sie nicht. Dafür steht unten am Ende des Kehrgleises ein ausrangierter U-Bahn-Wagen wie ein Goldenes Kalb. Dieser Wagen ist komplett zugesprayt. „GBR“ steht da in wandhohen Lettern, also eine Abkürzung für Großbritannien. Der Sprayer hat schon vor Jahren eine Brexit-Installation geschaffen. Er muss ein Prophet gewesen sein.
Für eine Waschung ist es für diesen Wagen zu spät. Er steht da und sieht so aus, als würde er auf ewig hier geparkt. Es ist ein schönes Ende für einen alten Doppeltriebwagen. Die Alternative wäre der Schrottplatz.
Mein Vorschlag ist dennoch: Holt den Doppeltriebwagen da raus. Parkt ihn an der frischen Luft und macht eine Kneipe daraus. Nennt diese Kneipe „Kehrgleis“ und schenkt Pale Ale aus. Und lasst keine pensionierten Priester rein. Es muss auch ohne Beichte gehen.
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