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Archiv-Artikel

Das Glück in den Gassen

Wer durch Indien reist und das Land wirklich kennenlernen will, der kann auf Reiseführer verzichten. Der Zugfahrplan und Bücher indischer Literaten helfen da schon eher. Eine emphatische Rundreise

VON RENÉE ZUCKER

Außer einem Reiseführer kann man jegliche Lektüre zu Hause lassen – und auch den Reiseführer kann man hier lassen, weil in jedem Dorf schon einer mit seinem „Lonely Planet“ rumsitzt. Zudem gibt es fast überall ein paar gute Buchhandlungen, in denen man sich immer wieder neu eindecken kann.

Hat man erst einmal das Studium des fantastischen, aber ungemein komplizierten halbjährlich erscheinenden Zugfahrplanbuchs bewältigt, liest es sich ganz entspannt im Hier und Jetzt. In Indien liest man nach. Man liest ständig Städten, Menschen und Religionen hinterher.

Eine Autorin, die ich erst hier entdeckte, ist Ruth Prawer Jhabvala, eine 1927 in Köln geborene polnische Jüdin, die 1939 nach England emigrierte, einen indischen Architekten heiratete und dann nach Delhi ging.

Ihre Geschichten sind durchzogen von Phänomenen der Migration. Sie spielen mal in New York oder London, meist aber in Indien. Sie hat den doppelten Blick; kann von Westen nach Osten und umgekehrt schauen. Abgesehen von spektakulären Figurenkonstellationen schafft sie eine wundervolle Mischung aus Melancholie, süchtigem Sehnen, scharfer Intelligenz und trockenem Witz. Durch sie habe ich unglaublich viel über das andere Land und über die eigene Dummheit gelernt. Das schafft kein noch so guter Reiseführer.

Eine Geschichte heißt: „Introduction: Myself in India“ und ist in dem Erzählungsband „Out of India“ erschienen – jede Frau, die nach Indien reist, sollte sie kennen. Ich habe sie auf meiner ersten Reise wieder und wieder gelesen. Sie beschreibt die Unsicherheiten, Vorurteile, Erregungen und Fragen, die westliche Frauen angesichts der völlig anderen Kultur umtreibt, den Ernst und die Lächerlichkeit des Aufeinanderprallens der verschiedenen Sichtweisen und die Unmöglichkeit einer gültigen Antwort. Wenn man sich erst mal damit abgefunden hat, dass hier alles anders ist, dann kann man sich auf das Land einlassen. Am besten von heute aus in die Vergangenheit hinein.

Die beste Analyse des gegenwärtigen, aufsteigenden Mittelklasse-Indiens ist in Pavan K. Varmas „Being Indian“ zu finden. Warum das 21. Jahrhundert Indien gehört, erklärt der ehemalige Diplomat und Direktor des Nehru-Center in London auf ebenso kritische wie unterhaltsame Weise. Und er räumt gleichzeitig prima respektlos mit vielen westlichen Indien-Mythen auf, etwa mit dem vom friedvollen, spirituellen Hindu.

Derart schon mal für Herz und Verstand ausgestattet, kann man langsam ins Detail gehen. In Delhi zum Beispiel mit William Dalrymple. Alle Bücher von ihm sind lesenswert, aber in Delhi vor allem „City of Djinns“, eines der erhellendsten und schönsten Bücher über eine Stadt, die auf den ersten (und auch noch auf den zweiten) Blick alles andere als schön ist. Sie ist so unübersichtlich, rüde, betrügerisch und uncharmant wie ihre vielfältigen Bewohner – aber hat man sie einmal an irgendeinem ihrer Zipfel gepackt, dann ist man verloren. Irgendwo in einer ihrer sieben Städte, aus denen die ständig neu wachsenden New und alle Old Delhis bestehen. Und wenn man Glück hat, begegnet man den uralten Gespenstern, den Djinns, die sich in engen Gassen und auf Ruinenfeldern herumtreiben.

Dalrymple ist ihnen eindeutig begegnet. Er vereint klassischen Reisejournalismus mit tiefer Kenntnis und großer Liebe zu dieser Stadt, und wenn man länger in Delhi ist, sollte man ihn unbedingt dabeihaben, auch wenn sein Buch nun schon 12 Jahre alt ist.

Je länger man Indien erlebt, desto mehr begreift man die Kompliziertheit dieser Gesellschaft, und umso größer wird das Bedürfnis, mehr über die große und lange Geschichte und die politischen Zusammenhänge zu erfahren. Abgesehen von Dalrymples Texten sind auch die Reportagen in „No Full Stops in India“ (1991) und „India in Slow Motion“ (2002) von Mark Tully hilfreich. Der in Kalkutta geborene BBC-Mann hat im Laufe seiner langen Korrespondentenzeit in Delhi viele informative, manchmal zornige und immer wieder emphatische Reportagen verfasst.

Von der Beschreibung ekstatischer Hindufeste über Recherchen angesichts der Metzeleien an Muslimen bis zur traurigen Situation in Kaschmir. Jeder Inder hat eine Meinung zu diesem einst als Paradies auf Erden bezeichneten nördlichsten Bundesstaat, der heute, trotz des schönen Panoramas, nur noch trostlos, verrückt und kaputt erscheint. Die Meinungen variieren, meistens je nach Religionszugehörigkeit des Betrachters.

Kaschmir ist der einzige indische Staat mit einer muslimischen Mehrheit. Eines der stärksten Bücher über den nördlichsten Bundesstaat ist von Humra Quraishi. Die Journalistin schreibt in „Kashmir – The untold Story“ über die Auswirkungen der seit 16 Jahren andauernden Gewalt zwischen indischer Armee und verschiedenen Widerstandsgruppen auf die normale Bevölkerung. Und darüber, dass eine Verbesserung der Verhältnisse nicht zu erwarten ist.

Zurück im normal verrückten Mother India. Beim Zeitunglesen stolpert man immer wieder über den Schriftsteller und Kolumnisten Kushwant Singh. Er ist eine Art später indischer Henry Miller. Ein wollüstiger Satyr, der gern provoziert – politisch wie religiös – und viel publiziert hat, so auch ein Standardwerk über den Sikhismus. Seine manchmal nervigen sexuellen Obsessionen begreift man allerdings erst, wenn man Indiens Prüderie und Bigotterie durchschaut hat.

Dass die hinduistischen Inder einerseits zwar in jedem noch so kleinen Tempel einen Phallus verehren und in vielen jahrtausendealten Sehenswürdigkeiten die ausgefallensten Liebestechniken propagieren, andererseits heutzutage aber entsetzlich prüde sind, sollen sie vor allem den Engländern zu verdanken haben. Zumindest im Süden des Landes, das ja weitgehend von muslimischen Herrschern frei blieb. Bis zur Ankunft der viktorianischen Briten seien die südindischen Frauen jedenfalls barbusig herumgelaufen sein, heißt es, was ihnen die Christen jedoch, wie schon in Afrika, als Allererstes ausgetrieben haben.

Über die indische Moral und ihre Veränderung hat der Schriftsteller und Psychoanalytiker Sudhir Kakar ganz viel nachgedacht – sowohl in Sachbüchern als auch in Romanen.

In Kerala versank ich in seinem „The Ascetic of Desire“, einem Roman über das Leben von Vatsyayana. Dieser Mann hat das Kamasutra geschrieben, und man weiß über ihn nicht viel mehr, als dass er im „Golden Age“ gelebt hat, dem Gupta Empire, als Indien um das 4. Jahrhundert herum die Blüte seiner Wissenschaften, Philosophie, Astronomie und Religion erlebte.

In diesem Paradies der Fülle und des Friedens erinnert sich der alte Dichter des Kamasutra an seine Kindheit, an Mutter und Tante, die berühmte Kurtisanen waren, und lässt den ganzen Reichtum aus Eros, Kunst und Philosophie, den diese Kultur hervorgebracht hat, noch einmal aufscheinen. Im satten, reichen und grünen Kerala genau die adäquate Lektüre. Khushwant Singh war übrigens ganz begeistert von dem Buch. Dabei muss man das Kamasutra, den Leitfaden zur Erlangung des Kama, der sinnlichen Freude, weder kennen noch nachgespielt haben, um diesen Roman zu mögen.

In Indien jedoch sind sie, wie in allen verklemmten Gesellschaften, ganz versessen auf erotische Themen. In manchen Buchhandlungen steht das Buch umgekehrt im Regal, sodass man den Titel nicht lesen kann – daran kann man übrigens alle Bücher erkennen, in denen es irgendwie um Sex geht, ob wissenschaftlich oder künstlerisch. Alles, was umgedreht ist, ist bestimmt interessant!

Eine der erfolgreichsten indischen Autorinnen „interessanter“ Bücher ist Shobhaa Dé. Ihre Geschichten sind ungefähr so authentisch wie Hindi-Filme. Seitdem ihr ein Numerologe geraten hatte, alle ihre Bücher mit S anfangen zu lassen (Sultry Days, Snapshots, Starry nights, Spouse etc.) schrieb sie einen Besteller nach dem anderen. Sie handeln alle davon, wie sich haltlose Frauen in Bombay von schnurrbärtigen Glutaugen aus dem Sari wickeln lassen und die Pumps in die Ecke schleudern – man nennt sie nicht umsonst die Joan Collins von Indien.

Wenn man begreift, dass trotz Bollywood und IT-Hype immer noch die Spiritualität der größte Exportschlager des Landes ist, dann sollte man unterwegs das eine oder andere fromme Buch lesen. Ich habe mich von einheimischen Empfehlungen leiten lassen und benutzte in Südindien für den Tagesanfang gern die kurzen Weisheiten des tamilischen Dichters Tiruvalluvar, „The Kural“. Für jede Lebenssituation hat er eine Seite mit kleinen Anweisungen verfasst, wie man ein guter Mensch wird.

Im Norden dagegen bevorzugte ich die Verse der diversen Sufi-Dichter, obwohl die Freude noch größer ist, die Texte von Qawalli-Sängern zu hören. Wenn man Lust und Konzentration auf wirklich ausgefeilte Spiritualität hat, muss es immer wieder Ramana Maharshi sein. Das letzte Foto des feinen und klugen Gurus machte Henri Cartier-Bresson. Man findet es in seinem großartigen Fotoband „In India“. Cartier-Bresson war zweimal in Indien – 1947 und 1966. Er hat entsetzlich beeindruckende Bilder aus der Zeit der Teilung Indiens gemacht: Züge mit fliehenden Muslimen, Flüchtlingscamps im Punjab, die Verbrennung von Ghandis Leichnam in Delhi, und immer wieder Kaschmir.

Es gibt viel zu sehen und nachzulesen in Indien.

Alle Titel sind nur auf Englisch lieferbar