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Archiv-Artikel

Das Glück der großen Ferien

KINDHEIT „Tatil Kitabi“ heißt Seyfi Teomans erster Spielfilm. Er erzählt von einem Sommer, der das Leben des jungen Ali drastisch ändert

Dass Kindheit und Sommer so gut zusammenpassen liegt daran, dass Kinder das Glück der großen Ferien erleben dürfen, das den Großen versagt ist. „Tatil Kitabi“ (Summer Book), der erste lange Spielfilm des türkischen Regisseurs Seyfi Teoman, wurde in Silifke gedreht, einer Kleinstadt in der Nähe der Mittelmeerküste. Sie erscheint gerade wegen ihrer unspektakulären Normalität interessant – aber auch, weil sie größtenteils durch die Augen des zehnjährigen Ali (Tayfun Günay) gesehen wird; eine Perspektive, die auch der diesjährige Berlinale-Gewinner „Bal“ von Semi Kaplanoglu eingenommen hatte.

Der Film beginnt im Klassenzimmer. Es ist der letzte Schultag vor den großen Ferien. Der Lehrer legt den Kindern ans Herz, die Ferien nicht mit unnützen Beschäftigungen zu vergeuden. Sie bekommen ein Ferienbuch, mit dem sie ein bisschen lernen sollen. Die Nationalhymne wird gesungen. Nun geht's los. Der Sand vor der Schule ist ein schönes, konkretes Sinnbild des Sommers. In jeder Einstellung des Films, der ganz ohne Musikuntermalung auskommt, spürt man die Sommerhitze und manchmal auch kühlenden Schatten. Die Geschichte ist episodisch wie das Leben.

Die Ferien beginnen mit einem Unglück; ein Junge stiehlt Alis Ferienbuch. Ali, der meist ein bisschen verloren wirkt unter den großen Menschen, leiht sich Geld bei einem Onkel, um ein neues zu kaufen, doch die Ferienbücher gibt es nur in Istanbul. Dann sieht man die Eltern Alis, wie sie sich über ihren Sohn unterhalten. Der Vater, Mustafa, ein ehrgeiziger Landwirtschaftskaufmann, will, dass Ali sich während der Ferien nützlich macht: „In seinem Alter hab’ ich schon auf dem Bau gearbeitet.“ Seine Frau Güler will dem Kind die Kindheit erhalten. Mustafa nimmt Ali im Auto mit. Der Junge wird abgesetzt und soll Kaugummis verkaufen. Ihm gegenüber sitzen einheimische, etwas ältere Kinder, die den kleinen schüchternen Kaugummiverkäufer übers Ohr hauen.

Alis großer Bruder Veysel möchte die Militärakademie verlassen und Betriebswirtschaft studieren. Um das zu tun, müsste er eine Ablösesumme zahlen. Sein Vater ist dagegen. Hasan, der Onkel, möchte den Ausbruchversuch Veysels unterstützen. Es gibt Streit. Die Mutter verdächtigt ihren Mann, eine Affäre zu haben. Der Vater erleidet auf einer Dienstreise einen Gehirnschlag. Bevor er ins Koma fällt, sagt er, er habe Geld im Auto versteckt. Man geht auf Spurensuche.

Das Leben in der Stadt ist öffentlich. Vor jedem Geschäft stehen zwei Stühle und ein Tisch. Männer trinken Tee, unterhalten sich oder spielen Domino. In wahnsinniger Geschwindigkeit verpacken Frauen Zitronen in einer Plantage.

„Ein Film sollte so unbestimmt sein wie das Leben“, sagt Seyfi Teoman. Sein unaufgeregter Film besticht in stillen Szenen: wenn Ali Mittagsschlaf macht, vor dem Spiegel im Badezimmer Grimassen schneidet, wenn er allein am Krankenbett des Vaters steht, der an Geräte angeschlossen ist, die an Kassettenrekorder erinnern.

Am Ende sind die Ferien vorbei, und die Kinder wieder in der Schule. Sie sollen einen Aufsatz schreiben. Thema: „Wer weiß mehr: der, der viel liest, oder der, der viel reist?“ DETLEF KUHLBRODT

■ „Tatil Kitabi (Summer Book)“. Regie: Seyfi Teoman. Mit Taner Birsel, Ayten Tökün u. a. Türkei 2008, 92 Min., OmU