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„Das Gemeinsame mit Inhalt füllen“

Konstituierende Sitzung des gesamtdeutschen Bundestags im Berliner Reichstag/ Rita Süssmuth mit großer Mehrheit als Bundestagspräsidentin wiedergewählt/ Eröffnungsrede von Willy Brandt  ■ Aus Berlin Mathias Geis

Das eigentlich bedeutende politische Ereignis schien nicht im Berliner Reichstag stattzufinden. Der Rücktritt des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse und seine dramatische Begründung jedenfalls bestimmten die Diskussionen am Rande der konstituierenden Sitzung des ersten frei gewählten, gesamtdeutschen Bundestags. Immer wieder sprach ein angeschlagen wirkender Hans-Dietrich Genscher seinen „großen Dank“ für Schewardnadses Verdienste um die deutsche Einheit in die Mikrofone. Rita Süssmuth, die erwartungsgemäß mit großer Mehrheit wiedergewählte Bundestagspräsidentin, war es dann, die das Thema des Tages auch ins Plenum brachte. Sie verband ihre Anerkennung für Schewardnadse mit einer Bestätigung des beschleunigten Einheitskurses und dem Dank dafür, „daß wir die Einheit in dem zurückliegenden Zeitraum erreichen konnten“.

„Fast zu selbstverständlich“, so die Präsidentin, „nehmen wir es hin, daß wir heute in einem Parlament vereint zusammenkommen.“ Es war in der Tat nicht ganz einfach, das zweifellos Historische der ersten konstituierenden Sitzung auch in ihrem Ablauf wiederzufinden. Es dominierte die Bonner Konstituierungsroutine mit Annahme der Geschäftsordnung, Präsidentinnenwahl — und die kurze Auseinandersetzung um Status und Rechte der kleineren Gruppierungen, die in früheren Forderungen der Grünen nach einem Präsidiumssitz ihre Vorläufer hatte. Routiniert wirkte an diesem Morgen auch die Sitzungseröffnung durch den Alterspräsidenten Willy Brandt, der dieses Amt immerhin zum dritten Mal seit 1983 und 87 innehatte. Brandt stellte in seiner von fraktionsübergreifendem Beifall begleiteten Rede den neuen Bundestag in die Tradition des Frankfurter Parlaments von 1848 und der Weimarer Nationalversammlung von 1919. Er erinnerte an die Opfer, die der Nationalsozialismus und der Stalinismus auch unter den Parlamentariern der Weimarer Republik gefordert habe.

Im Zentrum von Brandts nachdenklich-ausgleichender Rede stand erwartungsgemäß die Einheit, deren reale Erfüllung — so Brandt — erst noch bevorstehe. Seine Einschätzung, es komme jetzt darauf an, „mit welchem Inhalt wir das gemeinsame Gehäuse füllen“, verband Brandt mit dem Appell, jetzt „aufmerksam auf die Kolleginnen und Kollegen zu hören, die in den neuen Bundesländern gewählt worden sind“. Nimmt man die Sitzordnung im Reichstag, werden sich die Ex-DDRler freilich ihre Stimme in den Fraktionen erst noch erkämpfen müssen. Außer Wolfgang Thierse bei den Sozialdemokraten saß kein anderer Ossi unter den Honoratioren in der ersten Fraktionsreihe.

Der Stil des Hauses blieb im Rahmen des Gewohnten. Als die Abgeordneten Wolfgang Ullmann und Ingrid Köppe (Bündnis 90) sowie Jens Uwe Heuer von der PDS ihre Forderung nach gleichen Rechten vortrugen, schwoll der Geräuschpegel. Lacher und Zwischenrufe begleiteten Köppes zwingende Begründung für den Fraktionsstatus, der den beiden Gruppierungen laut alter und wiederbeschlossener Geschäftsordnung des Bundestages vorenthalten wird, weil sie nicht über die hierfür notwendigen fünf Prozent der Parlamentssitze verfügen. Diese Regel, so Köppe, entspreche dem alten Wahlgesetz. Doch die vom Bundesverfassungsgericht verfügte Trennung der Wahlgebiete müsse zwangsläufig auch die Anpassung der Geschäftsordnung zur Folge haben. Andernfalls sei die Chancengleichheit zwischen den Fraktionen nicht gewährleistet, was letztlich auf die Diskriminierung ihrer Wähler hinauslaufe. Die Geschäftsordnung jedenfalls, so die Bündnis-Abgeordnete, regele nicht nur den Ablauf der Bundestagsarbeit, sondern sei zugleich Ausdruck des demokratischen Selbstverständnisses des Parlaments.

Immerhin wurde die Annahme der Geschäftsordnung durch CDU/ CSU, SPD und FDP von allen Fraktionen mit dem Versprechen verbunden, man werde im Ältestenrat für eine Lösung eintreten, die den neuen Gruppierungen die volle Arbeitsfähigkeit sichern werde. Ob ein weiterer Antrag des Bündnisses im Ältestenrat ebenfalls auf Wohlwollen stoßen wird, bleibt angesichts des dominanten Willens zur Parlamentsroutine eher zweifelhaft: Die Bürgerbewegung will, daß die historische Zäsur in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus in einer neuen Zählung der Legislaturperioden zum Ausdruck kommt: alles von vorn.

Ganz hinten in den Bänken saß gestern Lothar de Maizière, der bedrückt Brandts Ausführungen zur DDR-Vergangenheit folgte. Es gelte, so der Alterspräsident, so deutlich wie möglich zu trennen zwischen denen, die vor den Kadi gehörten und den anderen, „die politisch geirrt oder sich bloß durchgemogelt haben“.

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