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Archiv-Artikel

Das Geheimnis des Visočica

Semir Osmanagić, Hobby-Archäologe aus Houston, elektrisiert seine Heimat Bosnien: Gibt es bei Visoko tatsächlich frühzeitliche Pyramiden? Muss Europas Geschichte umgeschrieben werden? Helfer und Touristen strömen in die Region, doch die Fachwelt bleibt skeptisch

AUS VISOKO ERICH RATHFELDER

Noch am Abend dieser milden Septembertage herrscht reges Treiben um die archäologischen Ausgrabungsstätten in Visoko, einem Städtchen dreißig Kilometer nördlich von Sarajevo. Ganze Familienclans quälen sich den steilen Berghang hinauf, um einen Blick auf die Ausgrabungen zu werfen. Alle wollen wissen, ob es hier tatsächlich „die größten Pyramiden der Welt“ gibt, über die in Bosnien jeder redet. Ob hier schon in neolithischer Zeit (also 4000 bis 8000 vor Chr.) eine Zivilisation existierte, die in der Lage war, große Bauwerke zu errichten. Wäre dies der Fall, müsste die Geschichte Bosniens, ja Europas, umgeschrieben werden.

Was die Besucher dieser Tage zu sehen bekommen, ist tatsächlich erstaunlich: Über hundert Meter lang und bis zu drei Meter breit ist nun schon die unterste der Terrassen aus Steinplatten, die in den letzten Wochen von den Mitgliedern des im Dezember letzten Jahres gegründeten Vereins „Archäologischer Park bosnische Pyramiden“ freigelegt wurde.

Unten am Berghang hat sich eine Menschentraube gebildet. Denn „er“ ist aus dem Auto gestiegen: Semir Osmanagić, Leiter der Ausgrabungen und Chef des Vereins „Archäologischer Park“. Der breitkrempige Hut, das bunte Baumwollhemd und die Weste sind zu seinem Markenzeichen geworden. „Semir Jones“, wie er sich nach seinem offensichtlichen Vorbild „Indiana Jones“ gerne nennen lässt, ist eine schillernde Figur. Während die einen ihn bewundern, ist er gerade für viele professionelle Archäologen ein Scharlatan, der sich mit den angeblichen Pyramiden nur selbst in den Vordergrund spielen will. Doch Osmanagić ist selbstbewusst. Denn er hat als Archäologe durchaus schon Erfolge vorzuweisen. Der 45-Jährige aus Houston (Texas) stammt eigentlich aus Sarajevo, ging aber 1991 vor dem Krieg auf dem Balkan in die USA, wo er die Metal-Recycling-Firma Met-Company gründete, die so erfolgreich ist, dass sie ihm sogar Zeit lässt, sich seinem Hobby zu widmen: der Suche nach Pyramiden. In den Urwäldern Zentralamerikas wurde er fündig. Stolz kam er im Sommer 2005 in seine alte Heimat, um sein neues Buch, in dem er die Entdeckung schildert, zu präsentieren.

Bei dieser Gelegenheit lud ihn der Chef des Museums von Visoko, Senad Hodović ein, sich die oberhalb der Stadt auf dem Berg Visočica gelegenen Überreste einer mittelalterlichen Königsburg anzusehen. Visoko war eines der Zentren des bosnischen Königtums, das sich im 12. Jahrhundert entfaltete und im 14. Jahrhundert seine größte Ausdehnung erreichte. Das durch die Silberminen von Srebrenica finanziell durchaus stabile Königreich umfasste das heutige Staatsgebiet Bosnien-Herzegowinas und zeitweise sogar die dalmatinische Küste, bis es 1463 den Türken unterlag.

Für all das interessierte sich Osmanagić aber nur mäßig, denn kaum auf der Spitze des Visočica angelangt, kam ihm die Idee, es könnte sich bei diesem Berg und den beiden gegenüberliegenden Hügeln um Pyramiden handeln. Er habe sich darüber gewundert, erklärt er, dass der 220 Meter über die Stadt aufragende Visočica vier Kanten besitzt, die nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Und er erzählt immer wieder gern, wie er nach Houston zurückkehrte und sich Satelliten- und Röntgenaufnahmen des Geländes beschaffte, die Wärmestruktur der Berge untersuchte und herausfand, dass sie eine regelmäßige Struktur haben, untertunnelt sind und über nicht natürliche Wasserläufe verfügen. Zudem bilden die drei Berge ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze nach Norden zeigt. Er gab den vielversprechenden Bergen die Namen Sonne, Mond und Drachen.

Hunderte junger Archäologen aus ganz Europa meldeten sich im Frühjahr 2006 bei Osmanagić, um ihm bei den Ausgrabungen zu helfen, unentgeltlich. Es mussten Teile des Berges gerodet und das Erdreich abgetragen werden, damit die Archäologen die darunter liegenden Steinformationen untersuchen konnten. Unter einer Schicht von einem Meter Erde wurden am Fuße der „Sonnenpyramide“ tatsächlich Steinplatten freigelegt, die von Menschenhand geschaffen zu sein scheinen. Helfer fanden einen Eingang in das von Osmanagić erkannte Tunnelsystem, drangen darin Hunderte von Metern vor – und versiegelten danach den Eingang, weil schon nach wenigen Tagen Journalisten und Neugierige versuchten, in das Tunnelsystem zu gelangen. Dadurch hätten Zeugnisse der Vergangenheit zerstört werden können. Weitere systematische Untersuchungen überstiegen die Kräfte des Vereins.

Im Sommer wandte sich die Crew der „Mondpyramide“ zu und legte auch dort Stufen mit ähnlichen Steinplatten frei. Osmanagić gelang es nach den schnellen und sichtbaren Erfolgen, der nicht gerade in Geld schwimmenden einheimischen Wirtschaft weitere Mittel für die Ausgrabungen abzutrotzen.

Der Verdacht, tatsächlich auf Pyramiden zu stoßen, weckte den ökonomischen Einfallsreichtum der Bewohner von Visoko. Noch vor dem ersten Spatenstich tauchten Bretterbuden auf, in denen Getränke und Essen feilgeboten wurden. Anwohner widmeten ihre Wiesen in Parkplätze um, die Stunde für einen Euro. Und findige Bürger der Stadt schufen aus Ton geformte Pyramiden zum Verkauf an neugierige Touristen. Das einzige Hotel im Ort nannte sich in „Hotel Sonnenpyramide“ um, „Zimmer frei“ Schilder prangten an den Häusern, Flaschenetiketten wiesen den Inhalt als „Pyramidenschnaps“ aus. Plötzlich zahlreich auftauchende Künstler malten jede Menge Pyramiden vor den kitschigsten Sonnenuntergängen.

Im Kreis der professionellen bosnischen Archäologen sorgte Osmanagić für erdbebenartige Erschütterung. Aus Geldmangel war seit dem Krieg deren Feldforschung praktisch eingestellt worden. Selbst das Nationalmuseum in Sarajevo wurde 2003 zeitweise geschlossen, weil die Heizkosten das Budget überstiegen. Für eine arme Gesellschaft, die seit dem Krieg hauptsächlich damit beschäftigt ist, die zerstörten Städte wieder aufzubauen und eine Infrastruktur herzustellen, rangiert die Altertumswissenschaft nicht gerade an vorderster Stelle. Osmanagić aber trieb neben Sponsorengeldern auch Mittel aus dem Staatssäckel auf.

Die Archäologin und Direktorin des Nationalmuseums in Sarajevo, Zilka Kujundžić, war wütend. Sie startete eine Gegenkampagne. Für sie ist Osmanagić bis heute ein Scharlatan. Die Pyramidenthese ist ihrer Ansicht nach nicht zu halten. Sie holte sich gewichtige Unterstützung aus dem Ausland. Der Brite Anthony Harding, Präsident der European Association of Archeology, erklärte Anfang Juni nach einer kurzen Stippvisite auf dem Gelände, es handele sich bei den freigelegten Steinplatten am Fuße des Visočica um natürliche Steinformationen. Für dieses Statement wurde er zwar während einer Pressekonferenz kritisiert, denn er selbst hatte sich nicht einmal bemüht, Gesteinsproben zu entnehmen und zu untersuchen; die von Kujundžić mobilisierte Fachwelt forderte dennoch, die Grabungen sofort einzustellen, denn die Freiwilligen des „Archäologischen Parks bosnische Pyramiden“ seien nicht ausreichend ausgebildet, sie zerstörten unwiederbringlich historische Stätten des mittelalterlichen Bosnien und zugleich auch die gewachsene Natur der Region. Selbst im Team tauchten Zweifel auf. Silvana Cobanov ist mit den Ausgrabungen an der Mondpyramide beschäftigt. Dass der bisherige Fund aber die Existenz von Pyramiden beweist, will die an der Universität von Zadar ausgebildete Archäologin nicht bestätigen. Dazu sei es noch zu früh. „Wir stehen auf einem archäologisch wertvollen Gelände, und hier gibt es etwas. Doch was, das wissen wir noch nicht.“ Auch der ägyptische Geologe Ali Abd Alla Barakat steht der Pyramidenthese skeptisch gegenüber. Trotzdem befürwortet er weitere Forschungen durch Experten aus Ägypten. Über den nach seiner Ankunft in der Stadt kursierenden Witz „Was sind die Ägypter? Flüchtlinge aus Bosnien“ kann er herzlich lachen.

Osmanagić hält aber mit Hinweis auf das etwa gleichaltrige Stonehenge in England an der euphorischen These fest, eine bisher nicht bekannte Zivilisation aus neolithischer Zeit habe die Pyramiden vor 6.000 bis 7.000 Jahren erschaffen. Immerhin bekam er für diese Behauptung etwas Unterfutter durch ein Team der Universität Kiel. Unabhängig von Osmanagić hatten die Deutschen letztes Jahr um Visoko herum Ausgrabungen durchgeführt. Die gefundenen Überreste von Steinhäusern deuteten auf eine Besiedlung des Tales vor 5.000 bis 7.000 Jahren hin – und darauf, dass die Menschen damals in der Lage waren, Steine kunstgerecht zu bearbeiten.

Ein Beweis für die Existenz neolithischer Pyramiden ist das nicht. Aber selbst manch eingefleischter Gegner Osmanagić’, wie beispielsweise Slobodan Pudarić geben zu, dass Osmanagić „es geschafft hat, die Gesellschaft zu mobilisieren und auf ein positives Ziel zu richten“. Pudarić ist Archäologe und führendes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Als Fachmann glaubt er nicht, dass es in Bosnien eine Zivilisation gegeben habe, die zum Bau von Pyramiden in der Lage gewesen wäre. Auf „eine gute Botschaft aus Bosnien“ aber habe das Land elf Jahre nach dem Krieg dringend gewartet. „Deshalb konnte Osmanagić so erfolgreich sein, die Leute wollen nach dem Krieg und der bedrückenden gesellschaftlichen Lage mit über vierzig Prozent Arbeitslosigkeit an Pyramiden in Bosnien glauben. Die Wirtschaft profitiert, schon kommen zehntausende von Touristen und Neugierige aus ganz Europa. Und die Leute beginnen, über die bosnische Geschichte nachzudenken.“

Viele werden sogar selbst archäologisch aktiv. Osmanagić erhält aus der Bevölkerung hunderte von Hinweisen auf historische Stätten in ganz Bosnien. In seiner wöchentlichen Fernsehsendung am Sonntagabend, bei der er zur besten Sendezeit über die Fortschritte bei den Ausgrabungen berichtet, präsentierte er weitere archäologische Entdeckungen, beispielsweise den Fund Dutzender mysteriöser Granitkugeln, die einen Durchmesser von bis zu zwei Metern besitzen. Fünfzehn Fundstellen der Kugeln gibt es allein in der Region um die Stadt Zavidovići, die etwa 120 Kilometer von Visoko entfernt am Unterlauf des Bosnaflusses liegt. Auch in der nahen Umgebung wurden Steinkugeln gefunden.

Die Debatte um die Pyramiden zeigt bereits starke Auswirkungen auf die bosnische Selbstsicht. Denn seit dem 19. Jahrhundert wird in Bosnien die eigene Geschichte hauptsächlich aus einem nationalistischen Blickwinkel betrachtet. Nationalisten und die mit ihnen verbunden Religionsführer konzentrieren sich dabei ausschließlich auf „ihre“ jeweilige Geschichte. So versuchen serbische Wissenschaftler, Spuren der orthodoxen Kirche schon im Mittelalter zu finden, die Katholiken widmen sich dem Erhalt „ihrer“ Kirchen, und die Muslime sind vor allem daran interessiert, die im Krieg zerstörten Moscheen wieder aufzubauen. Jede nationale Gruppe versucht zudem, in Orten, wo sie heute die Mehrheit hat, durch überdimensionale sakrale Bauten Dominanz auszudrücken. Für das mittelalterliche Bosnien und die Zeit davor interessieren sich die nationalistischen Strömungen nicht.

Lediglich nichtnationalistische Parteien wie die Sozialdemokraten, die dünne bürgerliche Bildungsschicht in den größeren Städten und einige Intellektuelle des Landes haben bisher überhaupt die reiche mittelalterliche Geschichte wahrgenommen. Das erst 1463 von den Türken vernichtete bosnische Königtum verfügte nämlich über eine eigene christliche Kirche, die Kristiani, die weder dem Papst gehorchte noch dem orthodoxen Glauben anhing. Was erklärt, weshalb sie für keine der Nationalbewegungen von Interesse ist.

Die offizielle Archäologie Bosniens und Herzegowinas hat es angesichts dieser Interessenlage weiter Teile der Gesellschaft bisher nicht einmal vermocht, die mittelalterlichen Monumente zu sichern und für die Nachwelt zu erhalten. Die romanische Kirche von Jajce verfällt, im Hauptraum der nur aus Grundmauern bestehenden Krönungskirche des bosnischen Königtums in Mile bei Visoko spielen Kinder Fußball. Niemand hält den Verfall der weitläufigen Burganlagen von Bobovac, Jajce oder Ključ auf. Kaum jemand kümmerte sich bisher um den Erhalt der angeblich noch existierenden 59.000 altbosnischen Gräber, der Stećci, die aus mächtigen Granitsteinen bestehen, auf denen Ritter oder Symbole wie die bosnische Lilie abgebildet sind.

In der Bevölkerung hat Osmanagić ein Interesse an der eigenen Geschichte geweckt, über die Begrenzung der nationalen Gruppen hinaus. Diesen Sommer wanderten tausende von Menschen zu schwer erreichbaren mittelalterlichen Burgen, in vielen Dörfern wurden die Stećci endlich von den sie überwuchernden Pflanzen befreit. Für Dubravko Lovrenović, demokratischer Intellektueller, Historiker und Autor eines 800 Seiten starken Buches über die mittelalterliche Geschichte, ist das immerhin ein gutes Zeichen. Vehement lehnt er aber die Person und Arbeit von Semir Osmanagić ab. „Man kann die Diskussion nicht mit einer Lüge beginnen. Wenn für alle sichtbar wird, dass es keine Pyramiden gibt, werden viele Menschen enttäuscht sein.“ Dass bislang hauptsächlich Amateure an der Ausgrabungsstätte in Visoko buddeln, liegt auch daran, dass die Experten sich noch im Schmollwinkel befinden.

„Diese Leute sind einfach beleidigt, weil wir sie beim täglichen Kaffeetrinken gestört haben“, kontert Osmanagić auf ihre Angriffe. Die Archäologen des Landes hätten die letzten Jahrzehnte verschlafen und sich in ihren Instituten eingegraben, anstatt Feldforschung zu betreiben. „Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern der Haltung.“ Dennoch hat er alle Wissenschaftler des Landes aufgefordert, an seinem Projekt mitzuarbeiten. Immerhin ist es ihm gelungen, mit den Pyramidenspezialisten aus Ägypten wichtige ausländische Partner zu finden. Es zeigt sich, beteuert Osmanagić, jetzt schon das sensationell reiche archäologische Erbe Bosniens. Und er wiederholt immer wieder, dies sei auf jeden Fall endlich einmal eine gute Botschaft aus Bosnien.

Beim Mittagessen mit den engsten Mitarbeitern äußert auch der erst am vergangenen Wochenende aus Ägypten eingetroffene und in der Fachwelt bekannte Geologe Mohammed Ebrahim Aly die Ansicht, für Pyramiden in Bosnien gäbe es noch keine Bestätigung. Osmanagić verteidigt die Existenz seiner Pyramiden mit neuen Belegen: Geologen aus Tuzla hätten vor wenigen Tagen definitiv festgestellt, dass die ersten Funde, die Platten an der Sonnenpyramide, im Gegensatz zur Meinung des britischen Archäologen Harding von Menschenhand geschaffen worden seien. Anfang September sei sein Team bei der Sonnenpyramide auf Teile von Wällen und auf drei bis vier Meter tiefe Höhlen gestoßen, die jetzt mit Sonden erforscht werden sollen. Und stolz hebt er hervor, dass seine Mitarbeiter Anfang September nach Hinweisen aus der Bevölkerung in der zentralbosnischen Stadt Travnik einen Steintempel entdeckt haben. „Semir Jones“ hält nach wie vor an seiner Vision fest. Und hat Bosnien zweifellos aus dem archäologischen Dornröschenschlaf geweckt.

ERICH RATHFELDER, 59, ist seit 1992 Korrespondent der taz auf dem Balkan. Jüngst erschien sein Buch „Schnittpunkt Sarajevo, Bosnien und Herzegowina 10 Jahre nach Dayton“, Hans Schiler Verlag Berlin, 256 Seiten, 18 Euro