: „Das Gedächtnis schwindet“
■ Leben, Sterben und Überleben in Auschwitz: Vortragsreihe „Viereinhalb Jahre. 1940–1945 Auschwitz“ im Hamburger Institut für Sozialforschung / Ein Treffen der Forscher, ein Treffen der „Ehemaligen“ und der Erben der Opfer und Täter in dem Land, „das immer noch das Land der Mörder ist“
Von Klaus Hartung
Hamburg (taz) - Um mit einer Nicht–Selbstverständlichkeit zu beginnen: Die Konferenzsprache war „Deutsch“. Deutsch war die Muttersprache ehemaliger Auschwitz–Häftlinge, die nach Hamburg gekommen waren; die Sprache der Vernichter, die man fürs Überleben kennen mußte; deutsch ist die Sprache der Forschung in und über Auschwitz. Deutsch ist die vielleicht naheliegende Sprache der Kommunikation (obwohl sich die Anwesenden mühelos in anderen Sprachen verständigen könnten), die gemeinsame Sprache ist es nicht. Symptomatische Momente am Rande der Konferenz: Das Ehepaar Goldstein (Maurice Goldstein ist Vorsitzender des Internationalen Auschwitz–Komitees) aus Brüssel und Herr Cohen aus Arnhem plaudern in flämisch. Französisch, holländisch über Privates, über Lagererinnerungen. Deutsche Worte wie „Stammlager“, „Appell“ tauchen auf. Herr Cohen steht auf und kollidiert mit der Kellnerin und Herr Goldstein ruft ihm ironisch, in bewußt harscher Aussprache das deutsche „Achtung“ hinterher. Anlaß dieser einwöchigen Konferenz ist die Vorstellung der Edition der „Auschwitz–Hefte“, die das Hamburger Institut für Sozialforschung initiiert und betreut hat. Es handelt sich nicht um die Veröffentlichungen der Auschwitz–Gedenkstätte, sondern um einen Querschnitt durch die Przeglad Lekarski–Oswiecim (Medizinische Rundschau–Auschwitz), einer medizinischen Zeitschrift, die seit 27 Jahren jeweils das Januar– Heft den historischen, psychischen und medizinischen Aspekten der Lagerhaft widmet. Doch dieses Symposium, das in einer institutsintimen, fast privaten Atmosphäre ablief, hat noch andere, gleichberechtigte Motive. Vorgestellt wird die Forschungsrichtung jüngerer Historiker am Institut wie Susanne Heim, Götz Aly, Karl–Heinz Roth, eine Forschung, die auf die Analyse der gesellschaftspolitischen Systematik der Vernichtung, auf die Ökonomie der Vernichtung zielt. Das Institut ver trete einen Geschichtsbegriff - so eingangs der Mitbegründer Reemtsma -, der einbeziehe, daß „dieses Land immer noch das Land der Mörder ist“. Historische Forschung und Beweisaufnahme (zur Anklage) sei mithin „nie völlig getrennt“. Noch ein anderer Anlaß, ein Anlaß, der sich im wissenschaftlichen Diskurs nicht eingemeinden läßt, ist zu nennen: das Treffen der Ehemaligen. So sagte Hermann Langbein, ehemals führend im politischen Widerstand in Auschwitz und Autor grundlegender Bücher über das KZ–System, er sei gekommen, um Leo Eitinger zu treffen. Eitinger, Psychiater in Oslo, wurde aus der norwegischen Emigration nach Auschwitz deportiert. Er hat das Verdienst, das „KZ–Syndrom“ als international anerkannten psychiatrischen Begriff durchgesetzt zu haben. Die Anwesenden arbeiten wissenschaftlich über das KZ–System; sie gehören aber auch zur großen Verwandtschaft des Martyriums. Wissenschaftliche Fragestellungen werden in Flurgesprächen abgelöst von Mitteilungen über Tod und Krankheit von ehemaligen Mithäftlingen. Diskussion über Forschungsmethoden gehen unmittelbar über in den Appell: „Wir müssen die nächsten Jahre nützen, sehr schnell nützen, denn das Gedächtnis verschwindet mit uns.“ (Goldstein) So ist denn an dieser Stelle weniger über die inhaltsreichen Vorträge zu berichten, was ohnehin nur in ungerechter Verkürzung möglich wäre, sondern vor allem auch über die ungewöhnlichen Teilnehmer dieses Treffens: Da ist Reimar Gilsenbach, Schriftsteller aus Brodowin (DDR), der durch einen fast zwanzig Jahre langen Prozeß der Veröffentlichungen (Kinderbücher, Ge dichte, Abhandlungen, Romane) die Verfolgung der Roma und Sinti in der DDR zum Thema gemacht hat. Da ist Miroslav Karny (Auschwitz, Dachau), der seit Jahren wissenschaftliche Studien über das KZ–System und den deutschen Imperialismus in der Reihe Judaica Bohemia, und zwar in deutsch, veröffentlicht. Eine Zeitschrift, die hierzulande nicht zur Kenntnis genommen wurde. Da ist Henry Friedländer (Auschwitz, Ravensbrück), jetzt Professor für Judaistik und Mitherausgeber des Simon Wiesenthal Center Annual. Bedeutend und ungewöhnlich war aber dieses Symposium, weil die ehemaligen jüdischen Häftlinge auf Polen trafen, auf die Initiatoren, Redakteure, Mitarbeiter der Auschwitzhefte, Josef Bogusz Stanailaw Klodzinski, Zdzislaw Ryn, und auf die Mitarbeiter der Gedenkstätte in Auschwitz, auf die Historiker Franciszek Piper, Amdrzej Strzelecki. Tadeusz Iwaszko. Eine Begegnung, die gleich ein kleines wissenschaftliches Aha– Erlebnis provozierte: Sibyll Milton zitierte in ihrem brillanten Vortrag über Geschichte und politische Bedeutung der Fotodokumente aus den Lagern ein Kassiber, in dem ein „Tell“ erwähnt wird, der die berühmten Fotos vor dem Krematorium weitergeleitet hat. Wer „Tell“ sei, habe sie trotz aller Mühe nicht ermitteln können. Die Polen konnten den Namen nennen: Frau Teresa Lasocka aus Krakow. Aber die Begegnung mit den Polen war auch zugleich das Problem der Tagung: Josef Bogusz begrüßte die Initiative des Hamburger Instituts: damit würden „Sprachbarrieren“ abgetragen. Hinter dem Wort „Sprachbarrieren“ stand jedoch die Meinung, daß die Welt zwar vom Holocaust der Juden spreche, aber nicht vom Vernichtungsfeldzug gegen die Polen. Bei der Eröffnung wurde ein Querschnitt aus den Auschwitz–Heften über die Frage „Warum habe ich überlebt?“ vorgelesen. Es waren wohlgemerkt „Überlebensberichte“ polnischer Häftlinge, in denen beispielsweise die Rolle der Briefe und des Wissens darüber, daß die Familie die Rückkehr erwartet, beschrieben wurde. Das veranlaßte den zweiten Begrüßungsredner, Goldstein, vom Manuskript abzuweichen. „Diese Dokumente werden der Vision von Auschwitz nicht gerecht.“ Denn: Wie konnte man überleben ohne Briefe, ohne Verwandte? Am nächsten Tag, als die Quellenlage und die Methodik der Befragung in den Auschwitz–Heften diskutiert wurde, verschärfte sich noch die Kritik. Eitinger bestritt aus der Erfahrung eigener Exploration den wissenschaftlichen Charakter der polnischen Befragung - die Frage nach dem Überleben lasse sich nicht objektivieren. Es sei im übrigen die allerheikelste, existentiellste Frage, die man einem Häftling stellen könne. Eine Antwort für einen Fragebogen sei wenig wert. Allenfalls nach langen Gesprächen könne man sich der Frage nähern. Die sehr vorsichtig geführte Kontroverse kam zu einem Resümee, das aber auch gleich ein Ende war. Viele betonten, daß Erinnerung an die Lager nicht einfach abfragbar, kein Fall für „oral history“ sei - Erinnerung setze den Dialog voraus, mithin also politische Bedingungen, die einen Dialog der Opfer mit den Nachgeborenen ermöglichten. Die Mitglieder sahen in Polen die Voraussetzung für gegeben an und somit die Veröffentlichung gerechtfertigt. Jüdische Ex–Häftlinge wie Eitinger zweifelten genau daran. Eitinger betonte noch etwas anderes: auch bei dieser Tagung trage jeder der Teilnehmer mehr Erinnerung in sich, als hier zur Sprache kommen könne. Grenze einer wissenschaftlichen Veranstaltung also und die bittere Mahnung, daß keine wissenschaftliche Versöhnung die Einsamkeit jener Lagererfahrungen sprengen kann.
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