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Archiv-Artikel

Das Fenster zum Werk

Im Schatten der Großfamilie: Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse verbindet in ihrem Debütroman „Vienna“ viele Anekdoten und kleine Geschichten zu einer großen Familiengeschichte

VON ANNE KRAUME

„Erst bricht man Fenster, dann wird man selbst eines“, notierte der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer 1960 in seinem Tagebuch. Doderer, der die Biografie eines Schriftstellers immer wieder für irrelevant erklärt hat, wenn es um seine Werke ging – der Schriftsteller sei ein Herr mittleren Alters, dem man hin und wieder auf der Treppe begegne, sagte er etwa –, Doderer meint mit seinem Aperçu hier noch etwas anderes: Die konkrete Biografie des Schriftstellers mag zwar uninteressant sein, interessant ist aber in jedem Fall der Ausblick, den man durch das Fenster der Werke – und eben auch der Person – auf den Horizont dahinter haben kann.

Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse schreibt in ihrem Debütroman „Vienna“ über eine jüdische Familie in Wien, hinter der immer wieder ihre eigene Familie zum Vorschein kommt. Menasse, die als Journalistin für die FAZ arbeitet und im Literaturbetrieb allenfalls als kleine Schwester von Robert Menasse gilt, entfernt sich dadurch einerseits ein ganzes Stück von Doderers Idealbild vom Schriftsteller als namenlosem Herrn im Treppenhaus. Auf der anderen Seite weist der Panoramablick durch das Fenster ihres Romans so weit über die besondere Biografie der Schriftstellerin hinaus, dass dahinter viel allgemeiner ein Jahrhundert Wiener, österreichischer und europäischer Geschichte sichtbar wird.

„Mein Vater war eine Sturzgeburt.“ Ebenso sturzartig und kopfüber fällt der Leser hinein in die erste Anekdote des Romans, in der unvermittelt und lakonisch die Geschichte der Großmutter der Erzählerin berichtet wird, die in ihrer Bridgeleidenschaft unbedingt noch eine Partie zu Ende spielen musste, ehe sie sich um die stärker werdenden Wehen und die Geburt ihres jüngsten Sohnes kümmern konnte. Und dann geht alles plötzlich sehr schnell: Anekdote reiht sich an Anekdote, aus zahllosen kleinen und größeren Geschichten wird eine große Familiengeschichte zusammengeführt, die sich zuerst ganz in diesem anekdotenhaften, unlinearen Erzählen zu verlieren scheint, und bei der erst allmählich deutlich wird, dass sie genau in dieser scheinbaren Kontingenz ein sehr systematisches Konstruktionsprinzip hat.

Denn ebenso bunt gemischt wie ihre Geschichten ist die Zusammensetzung der Familie selbst: Der Großvater ist ein Wiener Jude, die Großmutter eine sudetendeutsche Katholikin, die zudem noch aus der Kirche ausgetreten ist. Die Schwester des Großvaters, die Tante Gustl, heiratet einen Herrn, von dem sie sagt, „Er is ka Jud, er is a Bankdirektor“ – eine Wendung, die in der Familie dann jahrzehntelang sprichwörtlich auf Menschen angewendet wird, die man für harmlose Trottel hält, denn ein solcher ist der Bankdirektor. Die Tante verkehrt jetzt in anderen Cafés und besseren Kreisen, und sie trägt ein weithin sichtbares Kreuz um den Hals. Abgesehen davon leistet ihr Bankdirektor einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsbildung in der Familie: Deren schönstes Spiel besteht nämlich darin, die Verheerungen zu zitieren, die der unbedarfte Onkel mit Hilfe von Büchmanns Zitatenschatz in der deutschen Sprache anrichtet: Wie Felix aus der Asche fällt er mit der Kirche ins Dorf, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen. In dieser zusammengewürfelten Familie, das wird schnell deutlich, gibt man nicht nur „im Zweifelsfall der Pointe immer den Vorzug vor der Geschmackssicherheit“, sondern hier wird Identität vor allem oder sogar ausschließlich im Erzählen erreicht. So ist es kein Wunder, dass der älter gewordene Vater einmal den Wunsch äußert, „später einmal“ auch so sehr im Mittelpunkt von Geschichten zu stehen wie sein eigener Vater, der Großvater der Erzählerin. Nur wer Geschichten liefert, der existiert – und die Erzählerin selbst sagt von ihrer Familie, gerade weil dort das Faktische oft ungewiss war, sei alles nur „gut und ganz“ geworden, wenn man es zu einer Geschichte mit einer Pointe machen konnte.

Die Sturzgeburt des Vaters findet 1930 statt. Mit acht Jahren endet für ihn die erste, die Wiener Kindheit, als er und sein älterer Bruder mit einem Kindertransport nach England geschickt werden. Es folgen neun Jahre im Haus von Uncle Tom und Auntie Annie in Stopsley, in denen der Vater zur Schule geht, Zeitungen austrägt und zwar Fußball spielen lernt, aber das Deutsche vergisst. Nach der Rückkehr muss der Bruder, inzwischen Sergeant der britischen Armee, für ihn dolmetschen, und die Eltern sind nicht nur unverständlich, sondern gar fremd.

Wenn die Daten und Fakten dieser Vatergeschichte noch nachvollziehbar und überprüfbar sind, wird es bei derjenigen der Großeltern allerdings schon schwieriger. Der jüdische Großvater kann dank seiner nichtjüdischen Frau in Wien bleiben, beide überleben die Kriegsjahre, aber hier werden die Erzählungen stiller: Auf welche Weise sie überleben, ob der Großvater Zwangsarbeiter war und was er getan hat, was genau die zweifelhafte Rolle der Tante Gustl war, das entzieht sich dem „Em-Em“, dem „manischen Mythologisieren“, wie das Heraufbeschwören und Neuinterpretieren der alten Geschichten später von einem angeheirateten Familienmitglied genannt wird. Dennoch wird mehr oder weniger chronologisch weitererzählt: die Heiraten des Vaters und seines Bruders, die Ehen, die Kinder, der Tennisclub S. C. Schneuzl.

Immer näher kommt die Erzählerin so ihrer eigenen Existenz, die über den ganzen Roman hinweg inmitten der Anekdoten sonderbar blass geblieben ist. Aber auch jetzt tritt sie nicht aus dem Schatten der Familie: Ihre Aufgabe ist nur die Erinnerung. Dass sie damit am Schluss allein bleibt, weil ihre Generation nur noch einen traurigen „Diadochenkampf“ um die Deutungshoheit der Geschichten auszutragen imstande ist, ist letztlich nicht erstaunlich. Wie sagt Heimito von Doderer, mit dem Eva Menasse nicht nur die Vorliebe für sommerliche Tennisplätze und den Duft von Lavendel teilt? „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um.“

Eva Menasse: „Vienna“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 400 S., 19,90 €