: Das Faustpfand kommt Stunden zuvor frei
In Erwartung der IRA-Erklärung durfte Sean Kelly die Haft verlassen. Sein Leben ist typisch für Belfaster Kids. Der Bombenleger versuchte sich zuletzt an Friedensarbeit in Nordirland
DUBLIN taz ■ Der 23. Oktober 1993 war ein Samstag. Auf der Shankill Road im protestantischen Teil Belfasts waren die Menschen unterwegs, um ihre Wochenendeinkäufe zu erledigen. Auch Frizzel’s Fischladen war gut besucht, als zwei junge Männer in weißen Kitteln den Laden betraten. Die Kundschaft hielt die beiden für Fischlieferanten. Einer der beiden, Thomas Begley, trug ein Paket in den Laden. Der andere, Sean Kelly, blieb an der Tür stehen.
Begley rief eine Warnung und zündete eine Bombe, die elf Sekunden später explodieren sollte. Doch sie ging sofort hoch. Begley und neun weitere Menschen starben in den Trümmern des Fischladens, Kelly verlor ein Auge und die Kraft in seinem linken Arm. Als er aus den Trümmern ausgegraben worden war, versuchte er, davonzulaufen, doch er wurde gefasst. Ein Gericht verurteilte ihn zu neunmal lebenslänglich.
Kelly und Begley wollten im Auftrag der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eigentlich das über dem Fischgeschäft gelegene Hauptquartier der Ulster Defence Association (UDA) sprengen, einer illegalen loyalistischen Organisation, auf deren Konto zahlreiche Morde an Katholiken gehen. „Die Tatsache, dass unschuldige Menschen ihr Leben verloren haben, wird mich mein ganzes Leben verfolgen“, sagte Kelly. „Wir wollten die Führung der UDA töten, und nicht unschuldige Menschen. Es ist aber passiert, und ich muss mich damit abfinden, dass die Familien derjenigen, die bei der Explosion ums Leben kamen, mir niemals vergeben werden. Aber es war wirklich ein Unfall, und wenn ich das ungeschehen machen könnte, würde ich es tun.“ In der Woche nach dem Anschlag auf den Fischladen ermordeten protestantische Organisationen aus Rache 13 Katholiken.
Kellys Biografie ist für die Kinder der Belfaster Ghettos typisch: Er stammt aus Ardoyne, einer kleinen katholischen Enklave mitten in protestantischem Gebiet. Hier vollzog sich Ende der Sechzigerjahre die Wiedergeburt der IRA. Als Kelly 1972 geboren wurde, war der nordirische Konflikt längst in Gang. Kelly besuchte wie Begley die katholische Grundschule Holy Cross, die vor vier Jahren in die Schlagzeilen der Weltpresse geriet, weil die Kinder auf ihrem Schulweg, der ein kleines Stück durch protestantisches Gebiet führt, von den Anwohnern mit Steinen beworfen wurden. Nach der Grundschule besuchte Kelly die Sankt-Gabriel-Oberschule, die er mit 16 verließ. Danach war er – wie die meisten in Ardoyne – arbeitslos, fünf Jahre später saß er im Gefängnis Long Kesh.
Doch nach sieben Jahren, am 28. Juli 2000, wurde er aufgrund des Belfaster Friedensabkommens vom Karfreitag 1998 als einer der letzten Gefangenen freigelassen. Seitdem arbeitete er wie viele ehemalige Gefangene für Sinn Féin, den politischen Flügel der IRA. Er versuchte, den Konfliktherd im Grenzbereich von Ardoyne und den protestantischen Vierteln zu entschärfen, indem er bei Demonstrationen oder Zusammenstößen mäßigend auf die Jugendlichen seines Viertels einwirkte.
Am 18. Juni dieses Jahres wurde Kelly erneut verhaftet. Der britische Nordirlandminister Peter Hain sagte, er habe Beweise, dass Kelly wieder aktiv in den Konflikt verwickelt sei, legte diese Beweise jedoch nicht vor. Viele in Ardoyne sagten damals, die britische Regierung benutze Kelly als Druckmittel auf die IRA, damit sie ihre Auflösung verkündet. Diese Einschätzung hat sich nun bewahrheitet. Vorgestern Abend wurde Kelly freigelassen, gestern gab die IRA ihre lang erwartete Erklärung ab.RALF SOTSCHECK