piwik no script img

Das Ereignis von Cannes

■ Am Montagabend wird die Jury unter Vorsitz von Roman Polanski die "Goldene Palme" verleihen. Im Wettbewerb stritten Filme von Spike Lee, Kieslowski, Rivette, Pialat; auf der Croisette drehte sich alles um Madonna.

Das Ereignis von Cannes Am Montagabend wird die Jury unter Vorsitz von Roman Polanski die „Goldene Palme“ verleihen. Im Wettbewerb stritten Filme von Spike Lee, Kieslowski, Rivette, Pialat; auf der Croisette drehte sich alles um Madonna. Das Ende des Autorenkinos ist absehbar.

Der Film sei ja gar nicht so schlecht, berichtete 'Le Monde‘, aber das Festival habe die Unanständigkeit gestreift. Gemeint ist natürlich die — wie soll man es anders nennen? — Fleischwerdung Madonnas in Cannes, die persönliche Anwesenheit der Sängerin anläßlich der Premiere des Dokumentarfilms über ihre letztjährige Tournee, die vom Festival zwar als „Ereignis“ eingeplant war, dann aber das, was eigentlich Ereignis sein soll in Cannes, das Kino, so sehr überstrahlte. Eine derartige Menschenmenge haben in den letzten Jahren auch Gérard Depardieu und Cathérine Deneuve nicht vorm Palast versammelt, zehntausend Leute mitten in der Woche mitten in der Nacht. Selbst wer das an sich affige, in Cannes aber unvermeidliche Ritual der Galapremieren mit Smokingzwang verachtet, erwischte sich dabei, wie er sich, als sich die lange Reihe achtsitziger Cadillacs dem Palast näherte, bückte, um vielleicht einen Blick auf die Leibhaftige zu erhaschen. Natürlich waren die Fenster abgedunkelt. Nichts zu sehen. Dann aber stieg sie aus und erklomm, behindert durch einen Pulk von Fotografen, Polizisten und Bodyguards unter den Klängen ihrer größten Hits die mit rotem Teppich bespannte Treppe, mädchenhaft kokett ob der ihr zuteil werdenden Aufmerksamkeit. Einen rosafarbenen Umhang trug sie, das brünette Haar zu einer Rokokofrisur aufgetürmt. Die Fotografen aber wurden nicht müde, zu betteln, an ihr zu zerren, und so ließ sie sich herab, zu posieren — dies auf dem obersten Treppenabsatz —, sich ins Licht zu drehen, den Umhang zu lüpfen und den Blick freizugeben auf den von Jean-Paul Gaultier entworfenen Büstenhalter. Eine echte und tiefempfundene Euphorie ergriff die Menge.

Nur die Filmwelt notiert es mit einer gewissen Mißgunst, obwohl es eigentlich längst bekannt ist: Der blinkende Sternenhimmel, mit dem der Festivalvorspann zu den Wettbewerbsfilmen endet, ist längst nicht mehr mit Schauspielern besetzt.

Das eigentliche Ereignis von Cannes sollten aber, wie gesagt, die Filme sein. Das Festival nähert sich dem Ende, soviel läßt sich schon sagen: Es war verdienstvoll und doch enttäuschend. Verdienstvoll, weil Cannes sein festliches Brimborium längst nicht mehr um Filme veranstaltet, die es nicht nötig haben. Cannes ist nicht mehr wie einst — und heute Berlin — der europäische Brückenkopf für die amerikanischen Großproduktionen. Das mag damit zu tun haben, daß sich die Starttermine in den USA verschoben haben. Sie liegen nicht mehr im Frühjahr und im Herbst, sondern im Sommer und vor Weihnachten. Für die Weihnachtsfilme kommt Cannes zu spät, für die Sommerfilme zu früh — sie sind einfach noch nicht fertig im Mai.

Gilles Jacob, der Leiter der Auswahlkommission, hat aus dieser Situation das Optimale gemacht: Er übertrug die intelligente Politik, die früher die Nebenreihen von Cannes auszeichnete — den „Certain Regard“ und die „Quinzaine des Réalisateurs“ — auf das Hauptprogramm. Er holte Erstlingsfilme unbekannter Regisseure in den Wettbewerb, überließ sie also nicht zum Austesten den kleinen Reihen: Jane Campions Sweetie, Steven Sonderbergs Sex, Lies and Videotapes. Er übernahm die zweiten und dritten Filme von Regisseuren, die in der „Quinzaine“ entdeckt worden waren: Spike Lee und Jim Jarmusch. Er setzte auf Kieslowskis Kurzen Film über das Töten und verhalf dem Regisseur damit zur längst fälligen internationalen Anerkennung. Jacob betrieb eine Politik der Autoren. Alles, was in den letzten Jahren im Kino innovativ war, wurde vom Wettbewerb in Cannes unterstützt, mit Ausnahme Aki Kaurismäkis, dessen Filme zwar in Berlin liefen, dort aber nie in den Wettbewerb gelangten. Auch diesmal war der Wettbewerb entschieden den Autoren gewidmet, älteren, gewissermaßen schon klassischen wie Kurosawa, Rivette und Angelopoulos, Autoren der mittleren Generation, wie Werner Schröter, Maurice Pialat, Marco Ferreri, und jüngeren, wie Lars von Trier, Spike Lee, Joel und Ethan Coen.

Abschließendes läßt sich noch nicht sagen, einige wichtige Filme stehen noch aus, Pialats Van Gogh zum Beispiel. Aber abgesehen von Kurosawa, Lee und Rivette haben die Autoren bisher enttäuscht. Nicht daß ihnen der ja an sich immer begrüßenswert Mut zum Experiment fehlte, im Gegenteil: Wenn es in Cannes in diesem Jahr eine Tendenz gab, dann die zum Ausprobieren neuer Erzählweisen. Nur sind die Experimente allesamt fehlgeschlagen. Die Madonna-Erscheinung, die Ausblendung des Films durch den Pop, ist da fast schon symbolisch. Manchmal wirken die Experimente von Cannes wie der ferne, unbewußte und darum nicht von Kenner- und Könnerschaft geleitete Reflex auf die assoziativen Bildsprachen, wie man sie aus den Videos der U-Musik kennt. In Lars von Triers Europa beispielsweise dient die vage und grobgestrickte Handlung — ein Schlafwagenschaffner wird im Deutschland nach dem Krieg in die Machenschaften revanchistischer Werwölfe verwickelt — nurmehr als Vorwand für Bildkombinationen, die möglichst düster und suggestiv sein wollen. Wenn Emotion ins Spiel kommt, werden die Akteure in Farbe vor den schwarzweißen Hintergrund gesetzt. Aha! Früher leistete das Kino die Darstellung von Emotionen noch durch Mise en scène und Schauspielkunst. Bei Lars von Trier sitzen sie da und halten ihr Gesicht hin wie Popsänger vorm blue screen, nur singen sie nicht. Was genau besagen in Kieslowskis La double vie de Véronique die Bildfilterungen und -verzerrungen? Warum dreht Peter Sellars mit The Cabinet of Dr.Ramirez, der in der „Quinzaine“ lief, einen Stummfilm? Sein Kalkül geht nicht auf, schon weil John Adams' Musik die Aktion nicht gestisch begleitet, sondern eigenen Gesetzen folgt. Es ist wirklich ein heilloser Irrtum, zu denken, man könne heutige Farbfilmbilder einfach stumm lassen — tonlose Bilder hat man im Kino nur solange hingenommen, wie es technisch nicht anders möglich war. In heutigen Filmen bewirken sie nur eine Art Atembeklemmung: als kriegten die Bilder keine Luft.

Bisher hatte das Kino dem Video die Übergröße und -schärfe des Bildes voraus. Auch das wird nicht mehr lange so sein. Die Einführung von hochauflösendem HDTV und HDTV-Videos steht unmittelbar bevor, in absehbarer Zeit werden superflache, Ein-mal-zwei-Meter- Flüssigkristallbildschirme an den Wohnzimmerwänden hängen. Vielleicht muß das große alte Erzählkino Madonna demnächst wirklich den Vortritt lassen. Vielleicht — ja ganz bestimmt — ist es nicht mehr das Medium für die kollektiven Fantasien und Unterhaltungsbedürfnisse.

Filme wird es weiter geben. Es gibt ja auch Romane und Opern. Thierry Chervel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen