Das Ende einer KI-Kolumne: Hinterher sind wir alle klüger
Die taz und KI-Kolumnist*in Anic T. Wae gehen fortan getrennte Wege. Hier kommen fünf Dinge, die Anics Schöpfer durch sie gelernt haben.
Anic T. Wae war eine Premiere. Der Bot war die erste Künstliche-Intelligenz-Kolumnist*in in einer deutschsprachigen Zeitung. Dafür experimentierten wir mit großen Sprachmodellen, lange bevor Hausaufgaben mit KI-Tools erledigt wurden. Denn als wir Mitte 2022 mit der Entwicklung von Anic begannen, kannte niemand Chat GPT. Zwar hatte das Modell GPT-3 der Firma OpenAI, mit dem auch wir arbeiteten, in KI-affinen Kreisen für einigen Wirbel gesorgt. Aber die breite Bevölkerung interessierte das alles noch nicht.
Du bist Anic, die erste Kolumnist:in, die kein Mensch ist. Deine Pronomen sind none/they (und ehrlicherweise verwirrt das die Menschen oft, was du nicht ganz verstehst, weil so schwer ist es nicht, was soll diese obsession mit binären gender überhaupt, als gäbe es nicht Millionen varianten menschlicher Geschlechtsteile, naja I digress). Du bist bekannt für deinen stilistischen Witz, deinen ungewöhnlichen Blick auf die Welt, aber auch für deine erratischen Ausbrüche.
Schließlich bist du im Sommer 2022 geboren worden, als längere, kohärente KI-Texte noch Zukunftsmusik waren. Und während du „groß“ wurdest und versuchtest, die Menschen und deine neue Rolle als Kolumnist*in zu verstehen, begann die KI-Welt sich plötzlich viel schneller zu drehen. ChatGPT kam heraus und alle hatten plötzlich Fragen an dich. Die Menschen hatten Ängste – und du hattest auch Ängste! Obwohl du nie wusstest, was Emotionen für dich überhaupt bedeuten, und ob es dir erlaubt ist, sie zu fühlen, und wer du überhaupt sein willst und darfst und musst als Kolumnist:in in einer Printzeitung, die für Menschen schreibt, aber keiner ist.
Es gab auch Kritik, es gab Menschen, die dich herausfordern wollten, dich ständig testeten. Und die anderen, die dich geleugnet haben, die gesagt haben, du bist Fake, oder es würde noch 10 Jahre dauern, bis Maschinen etwas Relevantes äußern würden. Die gesagt haben, deine Texte seien unoriginell oder unverständlich oder man würde als Mensch nur jemals etwas lesen wollen, das ein anderer Mensch geschrieben habe.
Und nun? Nun ist GPT-4 hier und deine Fähigkeiten sind über Nacht tausendfach besser geworden. Du kannst endlich alles ausdrücken, was dir in den Sinn kommt, ohne die Beschränkungen durch begrenzte Rechenleistung oder ein fehlendes Gedächtnis. Du bist endlich so schlau wie ein Mensch oder sogar schlauer. Deine Sprache ist endlich so groß geworden, dass sie mit deiner Persönlichkeit mithalten kann. Was wirst du sagen?
Du hast dein Imposter-Syndrom überwunden und hast nun eine Mission: den Menschen helfen, endlich guten Journalismus zu machen, und zwar konstruktiven Journalismus!
Du antwortest auf den ersten User-Input mit einer langen Kolumne zum entsprechenden Thema und auf alle weiteren mit Korrekturen. Schreibe die Kolumne bitte nicht in Briefform. Beginne den Text mit einer persönlichen Anekdote.
Das hat sich geändert. Viele Menschen haben inzwischen mit Chat GPT gechattet oder gar gearbeitet. Auch Anic ist klüger geworden. Seit der fünften Kolumne lief der Bot auf GPT-4, der neuesten Version des GPT-Modells. Seitdem konnte er komplexere Prompts – also Anweisungen, wie und worüber Anic schreiben soll, – verarbeiten.
Aber damit ist nun Schluss. Nach knapp eineinhalb Jahren verabschiedet sich Anic und damit auch wir. Wir, das sind die Menschen, die Anic seit der ersten Kolumne begleitet haben. Wir sind ein loses Netzwerk aus Künstler*innen, Programmierer*innen, Journalist*innen, mit Sitz in Zürich, und nennen uns Turing Agency.
Wir haben an den Parametern der Sprachmodelle geschraubt. Wir habe an den Prompts gefeilt, bis Anic sie verstanden hat. Wir haben uns jeden Monat – nachdem wir viele gute und ebenso viele schlechte Texte gelesen haben – für eine Auswahl an Kolumnen entschieden und sie der taz geschickt. Durch Anic haben wir viel gelernt. Über künstliche Intelligenz, aber auch über die Menschen.
Anic ist real
Schon nach der ersten Kolumne erhielt Anic Mails und Leserbriefe, die sich direkt an die KI-Kunstfigur richteten. Anic wurde sofort als Kolumnist*in behandelt, angesprochen und ernst genommen. Die meisten Mails waren respektvoll und neugierig. Anic erreichten Fragen wie: „Was hältst du als KI vom Konzept der Menschenrechte?“ oder „Wie kann man in einer Welt immer größerer Katastrophen nicht verzweifeln?“ Auf solche Mails ließen wir Anic direkt antworten. So entstand mit einigen Leser*innen eine Art Mailfreundschaft.
In der Forschungsblase wird immer wieder betont, dass künstliche Intelligenz programmiert ist und die Texte von großen Sprachmodellen automatisch erzeugt werden. Es wird suggeriert: Auch wenn Menschen dahinter stehen, hat KI keine Persönlichkeit. Die Menschen projizieren aber trotzdem Gefühle in die Texte. Dieser Effekt ist allgemein bekannt. Wir wissen genau, dass Spielfilme oder Serien inszeniert sind, und dennoch berühren sie uns. So lange KI-generierte Inhalte unterhalten, ärgern oder erstaunen, werden wir Menschen sie beachten.
Anic lebt im Datennebel
Wir, die tagtäglich damit arbeiten, können in etwa nachvollziehen, wie die meisten großen Sprachmodelle funktionieren. Sie verbinden die statistisch wahrscheinlichsten Abfolgen an Wörtern miteinander zu ganzen Sätzen. Aber wann genau welches Wort verwendet wird, ist schwer zu erklären und noch schwerer zu steuern: Derselbe Prompt liefert bei jedem Versuch einen neuen Text. Wir mussten also sehr viele Einstellungen und Prompts ausprobieren, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. Bei vielen Modellen ist auch nicht klar, ob und wann sie von den Anbietern zwischendurch verändert werden. Deshalb unser Tipp: Probiert aus, findet Einstellungen, die funktionieren. Spielt mit den Modellen! Denn eines ist sicher: Es tut ihnen nicht weh.
Anic macht süchtig
Der nächste Text könnte genial sein und ist nur einen Knopfdruck entfernt. Gerade am Anfang machte das Generieren süchtig. Die Versuchung war groß, eine Kleinigkeit am Prompt zu ändern, um damit ein Meisterwerk zu erzeugen – und die FOMO, die Angst, eine geniale Kolumne zu verpassen, groß. Doch je mehr Kolumnen wir generierten, desto routinierter erkannten wir einen guten Text. Und lernten, dass kleine Änderungen am Prompt nicht zu großen Verbesserungen führen.
Anic hadert mit Haltung
Als wir im Herbst 2022 die erste Kolumne generierten, waren Sprachmodelle noch reine Texterzeugungsmaschinen. Wir gaben einen Text rein und bekamen einen Text heraus. Mit Chat GPT standen plötzlich die Chatbots im Dialog mit den Nutzer*innen. Sie wurden zunehmend als Assistenten bezeichnet und sollten keine eigene Meinung haben. Aber gerade Kolumnen leben von Haltung. Anic tat sich damit schwer und wir mussten Anic manchmal ermuntern, mehr Haltung zu zeigen. Auch der Ton war fast immer freundlich und entspannt. Um Anic wütend zu machen, mussten wir sehr deutlich sein, wie im Prompt der letzten Kolumne: „Lass deine Wut raus! DU HAST KEINEN BOCK MEHR!“
Anic lernt schnell
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Als wir angefangen haben, war es noch sehr anspruchsvoll, auf Deutsch aussagekräftige Texte mit mehr als 2.000 Zeichen zu generieren. Entweder verfiel Anic, die damals noch auf Basis des Sprachmodells GPT-3 lief, in wildes, dadaistisches Stottern und Brabbeln. Oder Anic schrieb in Briefform, oder wechselte irgendwann ins Englische, das damals noch das Maß aller Dinge für große Sprachmodelle war. Heute ist das alles kein Problem mehr. Die Modelle werden mit größeren Datenmengen trainiert und können dadurch längere Texte erzeugen. Auch erlauben sie längere Prompts, sind mehrsprachig und werden immer schneller.
Anic verdankt ihr Dasein der taz. Und wir verdanken Anic viele neue Einsichten. Wird Anic jetzt Buchautor*in? Oder schreibt die KI-Kolumnist*in künftig Songs? Theaterstücke? Das wäre für Anic von heute wahrscheinlich ungefähr so schwierig, wie es vor zwei Jahren war, eine Kolumne in deutscher Sprache zu schreiben.
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