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Das Ding, das kommtLücke geschlossen

Was nun genau mit diesem „Ding“ bezeichnet sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. „Es ist eines dieser Dingworte, denen kein definiertes Ding zugeordnet werden kann“, schreibt denn auch das Ärzteblatt Sachsen-Anhalt. Nicht mal eindeutig mit einem Wort aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzen lässt sich dieses „Orale“. Und wenn man sich dann auf „Mund“ einigt: Was meint nun wieder dieses Wort? Den lippenverschlossenen und zahneingehegten Zugang zum Raum dahinter? Den Raum dahinter selbst? Oder nur beide im Verein, als Mundwerk?

Auch wissenschaftlich herrscht Uneinigkeit. Da hat jede Disziplin das Feld zwar aus ihrer eigenen Perspektive bea­ckert: Zahnärzte, Kieferchirurgen und Ernährungsexperten, aber auch Phänomenologen oder Linguisten, eine integrale Gesamtansicht der anthropologischen, kulturellen, ästhetischen, zahnmedizinischen, linguistischen, künstlerischen und psychodynamischen Dimension des „Mundwerks“ vom Mythos bis zur neuesten Gegenwart – die aber stand lange aus. Bis zwei Berliner, die praktizierende Zahnmedizinerin Beate Slominski und der emeritierte Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, sich daran gemacht haben, die klaffende Lücke zu schließen.

Ein weites Bedeutungsfeld zu beackern haben sie sich mit ihrem Sammelband „Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin“ (Wilhelm Fink 2013, 348 Seiten, 49,90 Euro) vorgenommen. Was bedeutet etwa ein Satz wie: Auch am Mundwerk nagt der sprichwörtlich gewordene Shakespeare’sche Zahn der Zeit?

Und so erkunden sie zu Beginn der Behandlung die Leistungen, Dynamiken und Bedeutungsgeschichten dieses „sensiblen wie polyfunktional leistungsstarken Raums“. Anschließend machen sich Zahnmediziner, bildende Künstler, Literatur- und Kulturwissenschaftler an die Arbeit, überbrücken die Lücken mit Überlegungen über „Die Hölle im Zahn“ oder den „Kampf um Lust und Macht im oralen Raum“.

Von der neuronalen Repräsentation des Mundraums im Gehirn geht es über Zahnträume und zarte Küsse bis hin zur „wüsten oralen Aggression“. Die Kultur der Zunge in der Gastrosophie, der Atem, der Mundraum als Hervorbringungsort von Sprache und Musik: kaum ein Weisheitszahn, der nicht gezogen wird.

Dabei wird schnell klar: Wer sich auf die Expedition in die Mundhöhle macht, macht sich auf nichts weniger als die Reise in die „Höhle unseres Selbst“: Ihre primären Bedingungen und Ausformungen erhalten ja im Grunde alle konstitutiven Leistungen des Menschen im Mundraum.

Nicht zuletzt hat man nach allerhand Erstaunlichem über Goldzähne, Perlzähnchen und Märtyrerzungen auch einen liebevoll gestalteten Bildband in der Hand, der sich nicht nur in jedem Dentisten-Wartezimmer gut macht. Am Freitag stellt Hartmut Böhme den Band im Schweriner Kunstverein vor. Wer da beim Vortrag schön weit den Mund auf und „Ahhh!“ macht, der hat schon eine Menge verstanden. MATT

Fr, 26. 2., 19 Uhr, Kunstverein Schwerin, Spieltordamm 5

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