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■ Das Diepgen des TagesKreuz-Neroberger

Septemberzeit ist Erntezeit. Während die Berliner Hippies immer noch zu Dutzenden zur Weinlese nach Südfronkraisch trampen, sind andere sesshaft geworden. Horst Riewendt (60) zum Beispiel: „Es dürfte ein Jahrhundertwein werden“, öchselt der Leiter des Grünflächenamts Wedding und meint damit die 246 Rebstöcke der Traubensorte Grau-Burgunder, die seit 1987 im Arbeiterbezirk der Sonne entgegenwachsen. Etwa 350 Flaschen „Humboldthainer“ werden damit jährlich gekeltert, allerdings nicht für die Weddinger Prolls, sondern die Staatsgäste der Hauptstadt.

Und damit fängt das Problem an. Kann man zum Beispiel dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, einen turnusmäßigen Berlin-Besuch vorausgesetzt, einen bloßen „Humboldthainer“ kredenzen? Lebte Gott einmal nicht in Frankreich, sondern auf Besuch in Berlin, was würde er zu einem „Kreuz-Neroberger“ sagen, jenem Kreuzberger Tröpfchen, das seit den Siebzigerjahren an den Hängen des Kreuzbergs wächst? Oder zu jenem Dornfelder, der seit zwei Jahren den Barnimhang in Prenzlauer Berg zum Eldorado der Berliner Weinkenner hat werden lassen?

Blöde Frage, kann man nicht. Schließlich hat die bayerische CSU nicht umsont vor der Hauptstadt Kreuzberg gewarnt. Und recht hat sie. Ein Kreuz-Neroberger für Chirac wäre so peinlich wie ein Zigarillo für Clinton. Aber den Berliner Möchtergernwinzern ist bekanntlich nichts zu blöde, und so feiern sie alljährlich zur Erntezeit ihren Traubensaft wie weiland der Münchner Oberbürgermeister den Starkbieranstich. Fehlt nur noch, dass SPD-Kandidat Walter Momper mediengerecht die ersten Trauben pflückt und sich hinterher über die Schlagzeilen ärgert („Die Trauben wuchsen ihm nicht in den Mund“, „Ein Roter ohne Bukett“, „Momper-Spätlese“, „Diepgen spielt die Reblaus“, „Denominazione de copia controllata“, „Mis en bouteille par Urwahl“, „Am 11. Oktober ist die Nachlese“). Molly Bluhm

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