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Das Denkmal

■ Oswald von Nell-Breuning wird heute hundert Jahre alt

Wilfried Köpke

Das Zimmer ist genauso karg, wie alle JournalistInnen es schon vor mir beschrieben haben. Keine Blumen, ein vielfcheriger Büroschrank an der Wand, davor der Schreibtisch, ein großes, ordentlich sortiertes Bücherregal. In der Ecke hinter der Tür steht das Bett, nur noch zum Ausruhen benutzt, zum Rosenkranzbeten am Vormittag, denn seit einem Oberschenkelhalsbruch 1987 schläft Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning auf der Krankenstation der Jesuitenkommunität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Von 1928 bis 1986 hat der Mann, der, am Schreibtisch sitzend, jetzt ein Buch über Wirtschaftswissenschaften aus der Hand legt, hier doziert: Moraltheologie, Kirchenrecht und vor allem Gesellschaftswissenschaften. „Ich stehe jetzt vor dem Problem, wie ich diese Feier, daß ich hundert Jahre alt werde, überstehe. Wie muß ich mich drehen und wenden. Ich muß ja was reden“, meint er näselnd und mit leichtem Trierer Tonfall, der seine Geburtsstadt verrät. 1890 wurde er dort als Sohn adeliger, wohlhabender Weingutsbesitzer geboren. Es klingt nicht ganz überzeugend bei einem Mann, der es gewohnt ist, Ehren und Ehrungen mit der aristokratischen Haltung dessen entgegenzunehmen, der das alles nicht braucht - sich aber doch geschmeichelt fühlt.

Über 300 Gäste haben sich zur Geburtstagsfeier am 8. März angesagt: ÖTV-Chefin Wulf-Matthies wird erwartet und Arbeitsminister Blüm, H.-J. Vogel wird sich das Kommen nicht nehmen lassen, und auch vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, wird ein Grußwort gesprochen. Schließlich wird auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker sich per Hubschrauber einfinden, um Pater Nell-Breuning das „Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“, die höchste bundesdeutsche Auszeichnung für Zivilisten, zu verleihen.

Auf dem Schreibmaschinentisch am Fenster steht eine mechanische Adler-Schreibmaschine. Gegen die drohende Stillegung der Adler-Werke sah man den 91jährigen 1981 noch auf dem Frankfurter Römer demonstrieren. Die Bibliographie Nell-Bräunings zählt über 1.800 Titel, meist aktuell und brisant: 35-Stunden-Woche, Paragraph 218, Einheitsgewerkschaft, paritätische Mitbestimmung, dynamische Rentenversicherung, Gewissensfreiheit der Journalisten, Marxismus. Und viele kirchliche Themen. Kirchlicher Dissident

Kirchlich sei er nicht wohlgelitten, resümiert er. „Es ist ja schwer, das selber objektiv zu beurteilen. Eindeutig ist, daß offiziell die Kirche mich einfach nicht gekannt hat, und als ich bei meinem 80. Lebensjahr in Bonn honoriert wurde, vom damaligen Bundeskanzler Brandt und von Gewerkschaftsseite, hat man mich kirchlich geschnitten.“

Er war unbequem, zeitlebens, sachlich und menschlich. Er bestand auf einer Gewissenserforschung der Kirche wegen ihres Versagens gegenüber der Arbeiterschaft. Den Sonderweg der bundesdeutschen Kirche im Dienst- und Arbeitsrecht, der kaum Mitbestimmung zuläßt, brandmarkt „Nell“, wie ihn die Studentinnen und Studenten nennen, als „ideologischen Behelf“ für eine der größten Arbeitgeberinnen in der Bundesrepublik. Meinen Nachfragen über Konflikte mit der Amtskirche weicht er aber aus. Er habe sich inhaltlich zum mangelnden Arbeitsrecht in der Kirche doch klar geäußert, und die kirchliche Obrigkeit wolle er nicht angreifen. „Die Einheitsmeinung der Bischöfe steht doch gegen mich. Wie gesagt, ich habe mehrfach dazu publiziert und mich bemüht, die nötige Vorsicht zu üben, den notwendigen Respekt zu wahren, und ich lasse mich jetzt nicht von Ihnen dazu verführen, unvorsichtig zu werden. Sie wissen, ich bin ja in einer insofern glücklichen Lage: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Das ist mir schon oft zustatten gekommen, daß ich nichts zu verlieren habe, und ich habe darauf, wenn Sie so wollen, gesündigt. Ihre ersten Fragen habe ich sehr gerne beantwortet, aber hier...“ Es ist dunkler geworden im Zimmer, der sparsame Ordensmann macht kein Licht. Mir fällt die Anekdote ein, in der erzählt wird, wie er einen Journalisten in ähnlichem Zusammenhang bat, er möge doch das Licht am Schalter an der Türe einschalten. „Und wenn Sie schon mal an der Tür stehen, können Sie eigentlich gleich gehen.“ Also wechsele ich das Thema.

Sein größtes Vorbild sieht der „Nestor der katholischen Soziallehre“ darin, die katholische Soziallehre „wissenschaftlich salonfähig“ gemacht zu haben. Trotzdem strickt er gern am eigenen Mythos vom kirchlichen Dissidenten. „Ich würde es nicht so formulieren, aber ich muß anerkennen, daß was dran ist. Die Achtung, die ich außerhalb der Kirche genieße, ist unvergleichlich größer als diejenige, die ich innerhalb der Kirche genieße. Das ist aber nicht meine Schuld.“ Es stimmt nicht ganz. 1980 verlieh ihm die Deutsche Bischofskonferenz als erstem Ausgezeichnetem die Bonifatiusmedaille, und schon 1930/31 hat er für Papst Pius XI. die Sozial enzyklika Quadragesimo anno entworfen. Darin betont er unter anderem die personale und soziale Funktion des Eigentums, unterstreicht das Subsidiaritätsprinzip und verurteilt die Arbeitsmarktprozesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Soviel Verantwortung übertragen bekommen zu haben, empfindet der 100jährige heute als „leichtfertig“. „Ich sage mir oft, ich habe Unheil angerichtet durch das, was ich als Definition des Sozialismus übernommen habe. Denn alle haben sich darauf berufen, damit sei jeder denkbare Sozialismus vom Papst verworfen. Und so waren auch stillschweigend die Wahlhirtenbriefe der deutschen Bischöfe stilisiert.“ Auf seiten der Bischöfe hat sich da bis heute wenig verändert. Der autodidaktische Sozialwissenschaftler Nell-Breuning sah den Marxismus später wesentlich differenzierter und versuchte seiner methodischen Leitlinie treu zu bleiben: „Dem Gegner alles zugestehen, bis zum Tüpfelchen auf dem i, worin er recht hat, denn damit schlage ich ihm seine Waffen aus der Hand.“ Es ist seine große Stärke, sich der Sache vorurteilsarm zu nähern, zu beschreiben, zu umgrenzen und erst dann zu urteilen. „Sachlichkeit“, „Sachgerechtigkeit“, „Vernünftigkeit“ sind seine methodischen Schlagworte. Und wie sonst wohl kaum einem katholischen Sozialwissenschaftler ist ihm klar: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx.“ Als der Vatikan Anfang der achtziger Jahre der Theologie der Befreiung vorwirft, marxistisch zu sein, weil sie die marxistische Befreiungsanalyse anwende, steht er den lateinamerikanischen Theologen bei und betont den Wert der marxistischen Analyse, die man anwenden könne, ohne den ganzen Marx einzukaufen. Das habe jetzt selbst der Präfekt der römischen Glaubenskongregation, Ratzinger, verstanden, meint zumindest Nell-Breuning. Konservativer Reformer

Auf der akademischen Hutablage des umstrittenen Wissenschaftlers liegen vier Ehrendoktorhüte, neben dem Doktorhut von 1928 für seine Dissertation über die Moral der Börse. Am 9. März kommt ein fünfter der Universität Trier dazu. Er ist Ehrenbürger der Städte Frankfurt und Trier. Der DGB verlieh ihm 1980 den Hans-Böckler-Preis als erstem Preisträger. Und das sind bei weitem nicht alle Ehrungen. Seine Mitarbeit in den wissenschaftlichen Beiräten des Bundeswirtschaftsministeriums und des Ministeriums für Wohnungswesen und Städtebau schlug sich nieder in manchen Gutachten, die deutlich die Handschrift des pedantischen Begriffsdefinierers tragen. Seine Vorlesungen an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main und als Honorarprofessor für Philosophie der Wirtschaft an der Uni Frankfurt wurden belebt von diesen konkreten Erfahrungen.

Seine wirtschafts- und arbeitspolitische Grundoption beschreibt er als den Vorrang des personalen Faktors Arbeit vor den Profitinteressen der Unternehmer, des Kapitals. Den Traum von einer dadurch inspirierten Unternehmensverfassung träumt er zusammen mit Georg Lebers Programm Vermögenspolitik in Arbeiterhände. Nell-Breuning plädierte zum Beispiel 1967, als es die taz noch nicht gab, für die Kapitalbeteiligung der Journalisten und Journalistinnen an den Zeitungen, um so dem Zeitungs„cäsaren„tum entgegenzuwirken und die journalistische Gewissensfreiheit zu sichern.

Die Unterstützung starker Ar beitnehmerInnenmitbestimmung war sein Ansatzpunkt der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, dem DGB. Heinz-Oskar Vetter nennt ihn 1980 „Freund in kritischer Distanz“. „Daß die Einheitsgewerkschaft nicht zerbrochen ist, daran schreibe ich mir ein gewisses Verdienst zu.“ Aber auch kritische Distanz: „Ich habe schwere Vorwürfe gemacht, daß sie eine falsche Lohnpolitik betreiben. Daß es nicht auf den Nominallohn ankomme, sondern daß die reale Höhe des Einkommens sich weitgehend nach der Lohnverwendung bestimme. Ich hab‘ gesagt: Ihr müßt euch viel mehr mit euren Hausfrauen verständigen.“ Die 35-Stunden-Woche, besser noch eine 24-Stunden-Woche, finden in ihm schon früh einen Befürworter. „In dieser Frage habe ich zwei Thesen vertreten. Einmal: Die Arbeitszeitverkürzung sei notwendig, um bei der fortgeschrittenen Produktivität der Arbeit Platz zu schaffen, Mehrbeschäftigung von mehr Menschen. Und zweitens habe ich vertreten: Die Gewerkschaften hätten hier eine wunderbare Chance, ihr Bild zu verbessern und das Verständnis der Solidarität, wie sie es verstehen, zu läutern. Daß man also nicht nur solidarisch ist gegen den gemeinsamen Gegner, sondern daß man auch solidarisch ist mit den gemeinsamen Freunden. Ich habe damals schroff formuliert: Was ihr macht, ist ein Klassenkampf der Arbeitsplatzinhaber gegenüber den Arbeitslosen. Sie werden vielleicht beobachten, daß in der Sachfrage Lafontaine sich genauso äußert wie ich.“

Apropos Lafontaine. Hat er noch Kontakt zu Politikern? Das Schreibmaschineschreiben falle ihm, der früher rasant geschrieben habe, jetzt sehr schwer, das mache die Bearbeitung der Korrespondenz mühsamer. Aber er liest täglich noch die Zeitung, um auf dem laufenden zu bleiben. Jeden Morgen steht er um 5 Uhr 30 auf, ein Mitbruder hilft ihm, sich anzuziehen. Er feiert seinen Gottesdienst und dreht - pflichtbewußt - täglich zweimal die ärztlich verordneten Runden im Park. „Nell joggt wieder“, blinzeln sich Theologiestudentinnen und -studenten zu, wenn sie vom Seminarraum aus den gebeugten, schmalen, schwarzgekleideten Priester am Stock spazierengehen sehen, zielstrebig, gebeugt, konsequent. Er hat schon früher selten ein Auto benutzt. „Dadurch, daß ich immer den Weg zu Fuß gemacht habe, bin ich meiner Ansicht nach alt geworden. Ich wäre wahrscheinlich sonst schon längst am Ziel. Ich bin ja bei einigen Stellen verrufen als ein Verabscheuer der Verkehrsmittel. Wenn mir ein Auto zur Abholung angeboten wird, schlag‘ ich das meistens aus. Man ist unabhängiger.“ Polemischer Kämpfer

Eigenständigkeit hat er auch beim großen Richtungsstreit im DGB Anfang der fünfziger Jahre bewiesen. Aus Angst vor einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung durch die Spaltung des DGB führte er einen heftigen Zweifrontenkrieg. Auf der einen Seite stritt er gegen kirchliche Gruppierungen, die christliche Gewerkschaften gründen wollten und das 1955 ohne große Erfolge auch taten, auf der anderen Seite bekämpfte er vehement den radikalsozialistischen Flügel des DGB um den Mitgeschäftsführer des Kölner Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB, Viktor Agartz. Am 11.Januar 1955 hielt er in München eine in ihrer Polemik kaum zu überbietende Rede. „Wohin führt Agartz den DGB?“ „Dr. Agartz führt 1. in einen Irrgarten staats-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Wahnvorstellungen. 2. Er führt in den politischen und klassenkämpferischen Radikalismus. 3. (...) Er führt in die Verantwortungslosigkeit. 4.) Er führt in die Spaltung des DGB.“

Seitdem haftet ihm der zweifelhafte Ruhm an, Agartz gestürzt zu haben. „Ja, meine Rolle beim Sturz von Agartz. Ich habe mir eingebildet, daß ich ihn durch meine Münchener Rede 'umgebracht‘ hätte. Ich habe aber nachher erfahren, daß das unzutreffend ist, daß er sich selbst hat 'umbringen‘ müssen durch sein Verhalten im Bundesvorstand. Da mußte er sich unmöglich machen. Dann hat erst meine Rede durchgeschlagen.“ Demnach hat Nell-Breuning Agartz nicht gestürzt? „Das ist also objektiv leider nicht der Fall.“ Wieso leider? „(Lachend:) Ja, ich meine, es wäre doch, ich möchte sagen, eine Großtat von mir gewesen. Wenn man sich damals, das hat mir ein Teilnehmer der Versammlung im Festsaal gesagt, gegen Agartz geäußert hätte, man wäre zerrissen worden von den Leuten.“

Nell-Breuning gehört nicht einfach den einen oder den anderen. Daß Leute, sei es die Kirche oder die IG Metall, zu ihm auf Distanz gehen, das gehört zum selbstgepflegten Image, aber es schmerzt auch. Wenn der alte Mann zu seinem hundertsten Geburtstag so hoch geehrt wird, dann deshalb, weil er längst zum Symbol geworden ist. Leider immunisiert ihn das auch. Der säkulare Heilige der (bundes)deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung wird seines kritischen Potentials enthoben, er ist nur noch groß, nur noch bedeutsam. Seine Anfragen einer arbeitnehmerInnenorientierten Beschäftigungs-, Arbeits- und Wirtschaftspolitik innerhalb der sogenannten sozialen Marktwirtschaft sind noch lange nicht beantwortet.

Das plumpe Allheilmittel „Marktwirtschaft“, das bundesdeutsche Marktschreier nun der DDR empfehlen, ist sicherlich nicht der Stein der Weisen. Er kenne sich da zuwenig aus, um verantwortlich in der Öffentlichkeit Stellung beziehen zu können. „Ich kann bloß sagen, ich sehe voraus, daß unsere Egoisten das wieder mißbrauchen werden, um die Leute, die von drüben zu uns herüberkommen, zu übertölpeln. Also zum Beispiel die Arbeitssuchenden in Unkenntnis zu lassen über das bei uns bestehende Arbeitsrecht und dergleichen und so sehr viel kaputtmachen von dem, was sich da an Gutem und Glücklichem anbahnt.“

Es ist dunkel geworden im Zimmer. Ein Mitbruder holt Pater von Nell-Breuning zum Abendessen ab. Um 18 Uhr 30 geht er bereits zu Bett. Es war kein Gespräch mit dem Vater des Linkskatholizismus. Er ist überhaupt schwer auf den Begriff zu bringen - das macht ihn sympathisch. Meine Achtung ist gewachsen vor einem Mann, der sich ein Leben lang mit der sozialen und politischen Wirklichkeit seines Landes unerschrocken auseinandergesetzt hat und dessen Leben und Werk ein Spiegelbild problematischer (bundes)deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist.

„Ich habe ja nicht mehr viel zu sagen. Ich bin ja auch schon faktisch nicht mehr am Leben.“ Über zwei Stunden dauerte das Gespräch an diesem Sonntag nachmittag im Januar. Meine Stimme ist etwas angeschlagen. Nell-Breunings Gehör merkt man die hundert Jahre deutlich an. Aus Rücksicht darauf wird es bei seiner Geburtstagsfeier ein Trompetenstück als musikalischen Beitrag geben.

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