Danke (7): Der Naßrasierer
■ Helmut Kohl gewinnt die Bundestagswahl, weil er sie nicht verliert. Eine Botschaft
Unsere heutigen hochkomplexen Gesellschaften verlangen komplizierte Antworten auf komplizierte Fragen. Diese Kolumne verlangt einfache Antworten auf einfache Fragen. Gewinnt Helmut Kohl die Bundestagswahlen? Ja. Warum? Weil er sie nicht verliert. Warum verliert er sie nicht? Weil er nicht abgewählt werden kann. Warum kann er nicht abgewählt werden? Weil er Naßrasierer ist.
Steile These, was? Erst mal eine Zeile zum Durchatmen.
Und jetzt die entscheidende Frage: Warum ist Kohl Naßrasierer? Das läßt sich einfach mit Kohls Lebensphilosophie beantworten: „Alles, was im privaten Leben gut ist, ist gut in der Politik. Und alles, was im privaten Leben schlecht ist, ist auch schlecht in der Politik.“ Ist Naßrasieren etwa schlecht? Na also.
Es gibt viele, die diese Genialität nicht verstehen. Sie glauben ernsthaft, Kohls Kanzlerschaft löse sich gerade auf. Er wirke müde, behaupten sie, verletzlich, melancholisch.
Der Kanzler und verletzlich! Ach Gottchen, wie rührend.
Einige haben anscheinend gar nichts begriffen. Sie schwafeln von Melancholie, dabei sendet der Kanzler die zentrale Botschaft seines Politikverständnisses ins ganze Land hinaus. „Ich bin Naßrasierer“, bekennt er im Zeit-Interview, „stehe zweimal am Tag vor dem Spiegel und prüfe mich selbst nach der Devise: Hast du dich potentatenhaft aufgeführt?“ Was für eine Offenbarung! In diesen Sätzen verdichtet sich die gesamte deutsche Geschichte seit dem 3. April 1930.
Verstehen Sie nicht? Schlecht in Geschichte, wie? Oder keinen Sinn für Assoziationen. Naßrasieren, Wasser, Natur. Immer noch nichts?
Natur, Gesetz, Politik. Politik als Naturgesetz. Und schon sind Sie bei Helmut Kohl. Er ist keine historische, sondern eine naturgeschichtliche Gestalt. Kohl ist nie zum Kanzler gewählt worden, er ist Kanzler, und zwar schon immer.
Eine glückliche Fügung der Natur. Kohl wurde am 3. April 1930 in Ludwigshafen geboren. Sein Vater, Hans Kohl, Familienoberhaupt und Respektsperson, war bescheiden, schweigsam und phantasiearm. Er nannte seinen Sohn Bundeskanzler Helmut Kohl.
Ein besserer Name war ihm nicht eingefallen. Seiner Frau, Cäcilie Kohl, schien der Name ihres Sohnes zunächst etwas sperrig. Aber als das Meldeamt im nahe gelegenen Pfarrhaus St. Josef in Friesenheim einwilligte, weil im Namensregister gerade zwei Spalten frei waren, verlor auch Cäcilie ihre Bedenken.
Ich bin Kanzler, und ich werde es immer bleiben, weil in der Politik alles so ist, wie es ist – das ist Helmut Kohls Botschaft des Naßrasierens. Ich bin einfach da, will er uns sagen, und ich gehe auch nicht weg.
Falls doch, wird es nach ihm jedenfalls keinen Kanzler geben. Jens König
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