: Dankbar für eine Leiche
■ Wer in Rußland arm oder einsam ist und noch Herz und Niere hat, lebt gefährlich
Die Lehrerin Galina Motorowa aus Chaborowsk verschwand am 7. Januar dieses Jahres spurlos. Später wurde sie per Zufall in einem anonymen Landstreichergrab entdeckt. Der Toten fehlten mehrere innere Organe. Die 1971 geborene Asja Jewlajewa wurde am 28. November 1992 ins Republik-Krankenhaus von Inguschien eingeliefert, nachdem sie eines gewaltsamen Todes gestorben war. Auch ihr fehlten innere Organe. Der 1970 geborene Freiwillige der abchasischen Streitkräfte, Igor Morosow, wurde am 2. September dieses Jahres in das Militärhospital von Sotschie eingeliefert. Als Todesursache wurde nicht eine mittelschwere Kopfverletzung, sondern das Fehlen innerer Organe diagnostiziert.
Die Aufzählung ähnlicher Tragödien ließe sich fortsetzen. Und sie sind nicht überraschend. Der Handel mit menschlichen Körperteilen ist in Rußland eine profitable Sache und praktisch nicht zu beweisen, obwohl das im Land geltende Transplantationsgesetz dem internationalen Recht entspricht und den An- und Verkauf von Organen verbietet. Im übrigen sind, wie aus Hunderten Briefen an die populäre Zeitschrift Sodorowje (Gesundheit) hervorgeht, viele Russen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken, offenbar bereit, eigene innere Organe zu einem lächerlich niedrigen Preis zu verhökern.
Doch es ist leichter zu töten, als zu kaufen und dabei die Gefahr einzugehen, daß dies bekannt wird oder zumindest unliebsame Gerüchte entstehen. In jüngster Zeit ist die Zahl der Vermißtenmeldungen sprunghaft angestiegen. Täglich verschwinden allein in Moskau mehrere Menschen. Zu den besonderen Risikogruppen für die Entnahme von Niere, Leber, Herz und anderen Organen gehören Straßenkinder, junge Obdachlose und alleinstehende Patienten psychiatrischer Kliniken. In medizinischen Kreisen der russischen Hauptstadt wird immer wieder über Menschen berichtet, die zur illegalen Organentnahme regelrecht von der Straße weggefangen werden. Außerdem liefern die Zonen nationaler Konflikte und Bürgerkriegsregionen kostenlos beliebig viel Menschenmaterial. Man muß nur zugreifen.
Es gibt jedoch nur wenige erfahrene Chirurgen, die lebenswichtige Organe sachkundig entnehmen und erfolgreich transplantieren können. Sie alle sind im Kollegenkreis namentlich bekannt. Offiziell werden im Land jährlich rund hundert Herztransplantationen – ein Herz kostet inoffiziell 100.000 Dollar – und halb so viele Leberverpflanzungen vorgenommen – eine Leber wird mit 350.000 Dollar veranschlagt. Die Transplantation von Nieren – Kostenpunkt nur 40.000 Dollar – ist dagegen eine einfachere und weitverbreitete Operation.
In der russischen Presse tauchen immer wieder die Namen von „Kooperativen“ auf, die mit menschlichen Organen ein Vermögen verdienen sollen. Die Ärzte des Moskauer Zentrums für Chirurgie, des wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Transplantationen und anderer Einrichtungen kennen die Szene des An- und Verkaufs jedoch vermutlich genau – sofern sie denn überhaupt existiert. Hinzu kommt, daß heute eine neue Generation junger Chirurgen der marktwirtschaftlichen Epoche auf den Plan tritt, der völlig egal ist, womit gehandelt wird, auch wenn es sich bei der Mehrheit der Chirurgen um ehrliche Leute handelt.
Darüber hinaus nutzen das russisch-griechische Unternehmen „Bio“, das im Leichenschauhaus in Lefortowo gegründet wurde, und andere zweifelhafte Unternehmen gesetzliche Schlupflöcher, um Partner in Westeuropa zu beliefern – mit Blut von Abtreibungen, mit Plazentas, die zur Herstellung von Medikamenten für Gerontologie und Ontologie verwendet, in Rußland jedoch normalerweise weggeworfen werden, mit Hypophysen zur Gewinnung des Wachstumshormons Somatropin, mit Hirnhäuten und Hornhäuten. Für eine Leiche ist man in Rußland deshalb dankbar. Aber man bezahlt niemanden dafür: Moskaus Leichenschauhäuser sind überfüllt. Galina Labsina, Moskau
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