Damals bei uns daheim: Die frühen Tage
Früher war alles anders. Da wurde Schwangeren Alkohol verabreicht, die D-Mark war was wert – nur Streichhölzer waren immer schon tabu.
W ährend Stiefmutter mit mir stiefschwanger war, trank sie wie ein trauriges Kamel. Lakritzlikör, Kohlrabilikör, Asbestlikör. Dazu rieten die Ärzte, die selber unablässig tranken, ob im Operationssaal oder auf der Intensivstation, so werde der Fötus besser gegen Umweltgifte abgehärtet und sei pränatal bester Laune.
Die würde sich früh genug verschlechtern, sobald er das „Licht“ der Welt erblickt hätte, eine schummrige Notbeleuchtung, die Bombenkrater und Nachkriegsbausünden in ein apokalyptisches Zwielicht Guido Knopp’scher Prägung tauchte.
Alles war schwarz-weiß. Die Ampelphasen waren entsprechend grau, grau und grau – im Jahre 1965 waren Verkehrsunfälle die mit Abstand häufigste Todesursache, noch vor Lungenkrebs, Leberzirrhose und Blindgängern.
Noch bis kurz vor meiner Geburt räumte Stiefmutter die letzten Trümmer weg. Schwangerschaften liefen nebenher. Vorbereitungskurse mit sanftem Zureden und Lalülala-Musik standen noch in den Sternen, wo sie der öffentlichen Meinung nach auch hingehörten. Hatte die Frau Wehen, wurden zur Beruhigung ein paar Takte Marschmusik gespielt und fertig. Ein deutscher Junge musste krachend aus dem Rohr geschossen kommen wie eine Granate aus einer Kruppkanone, bevor sie die flandrische Erde durchpflügt.
NSU war damals eine angesehene Automarke in einem grauen Land, in dem der Weiße Riese und schwarze Pädagogik herrschten. Die Serie von Uli Hannemann über eine Kindheit in der Westzone zwischen Umweltverschmutzung, Pellkartoffeln und Kaltem Krieg.
An die Geburt selbst erinnere ich mich nicht. Ich war wohl zu aufgeregt. Es existiert nur ein verwackeltes Schwarz-Weiß-Bild, auf dem Stiefvater und Stiefmutter ein Neugeborenes an den Beinen hochhalten, triumphal wie Angler, die der Kamera einen kümmerlichen Hering präsentieren. Will sagen, der Triumph hielt sich in Grenzen. In ihre harten, bösen Gesichter steht Missmut und Enttäuschung geschrieben. Der Säugling bin ich.
So viel wert wie Tütensuppe
Zur Taufe legte die Stiefverwandtschaft zusammen und schenkte mir ein Sparbuch mit einer Mark. Immerhin war eine D-Mark unheimlich viel. Man konnte dafür einen Zentner Kartoffeln kaufen oder einen Dienstmann mieten, der einem die Sachen trug oder den Arsch ableckte – je nach Gusto.
Und auch die junge BRD zeigte sich großzügig. Eine Menge Leute waren nach der Scheißaktion des ungestümen Österreichers futsch. Daher setzte man Preise auf frischen Nachwuchs aus. Fürs erste Kind gab es einen Bausparvertrag mit hundert (!) Mark, fürs zweite ein Rowenta-Reisebügeleisen und so weiter. Für mich, den Jüngsten, bekamen die Stiefeltern gerade mal noch eine Tütensuppe. Knorr. Ochsenschwanz. Dabei wurden doch dem Stier bei seinem Downgrade zum Ochsen nur die Eier abgeklemmt.
Vom ersten Tag an versuchten meine Stiefgeschwister, mich zu töten. Im Kontext jener Zeit muss man das verstehen, denn wir hatten ja nicht viel. Da war sich jeder selbst der Nächste. Wo ein Bissen noch für sechse reichte, war ein siebter schon ein Risiko für alle anderen. Sie schoben mich in den Ofen, vergaßen aber, ihn einzuschalten. Sie zündeten die Wiege an, wurden jedoch entdeckt und wir bekamen alle zusammen fürchterlich Dresche: Schließlich war es uns streng verboten, die Streichhölzer auch nur anzufassen.
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