piwik no script img

■ Daimler-Chef als Regierender?Der Mythos Reuter

Inder festgefahrenen Berliner Politlandschaft hat der Spiegel am Montag morgen einen kleinen Erdstoß ausgelöst. Der scheidende Daimler-Chef Edzard Reuter, so ein Bericht des Nachrichtenmagazins, stehe für eine Bürgermeister-Kandidatur im nächsten Jahr unter bestimmten Voraussetzungen bereit. Ob nun Presseente oder nicht – zumindest die Reaktionen bei der Berliner SPD zeigen, daß die Kollegen vom Spiegel mit ihrem Bericht an einer Tatsache nicht so weit danebengeschrieben haben können: Den Sozialdemokraten fehlt der Spitzenkandidat, der im nächsten Jahr die Partei wieder zur stärksten Kraft machen könnte. Dabei entspräche die personelle Alternative Reuter durchaus der Berliner Mentalität, mit Mythen und dem Rückgriff auf längst Entschwundenes Politik zu machen. Edzard Reuter, selbst SPD-Mitglied, symbolisiert diesen Mythos gleich in zweifacher Hinsicht: als Sohn von Ernst Reuter, der als Regierender Bürgermeister die westliche Hälfte der Stadt nach 1945 durch den Kalten Krieg führte, und als der Vertreter erfolgreicher deutscher Wirtschaftsmacht. Daß nun selbst Bonner SPD-Referenten wie Tilman Fichter zu seinen Fürsprechern werden, zeigt, wie weit das Selbstbewußtsein der Partei gesunken ist: Weil es der eigene Stall nicht mehr hergibt, sollen nun Männer aus der Wirtschaft den großen Wurf wagen. Nun mag das intellektuelle Potential der hiesigen politischen Klasse in vielem dem eines Dorfes nicht unähnlich sein. „Weltgeister“ wie Reuter können vielleicht sogar einen Wahlkampf gewinnen. An den Milliardenlöchern eines Haushalts und der Realität einer Ost-West-Metropole käme jedoch auch ein gelernter Konzernchef nicht vorbei. Severin Weiland

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen