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Archiv-Artikel

Dämonen nachts um drei

DAS SCHLAGLOCH VON MICHAEL RUTSCHKY

Jetzt dominiert die Angst um den Wohlstand und seineVerteilung

Gewerkschaften und Sozialverbände äußerten unterdessen heftige Kritik an der […] Arbeitsmarktreform. Die Zahl der Armen in Deutschland werde durch die zum 1. Januar 2005 geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe von 2,8 auf 4,5 steigen, sagte der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Werner Hesse. Nach Ansicht der nationalen Armutskonferenz […] wird sich die Zahl der Minderjährigen, die von Sozialhilfe leben müssen, auf 1,5 Millionen verdreifachen. Süddeutsche Zeitung, 5. 7. 2004

Das Arbeitslosengeld sinkt also auf das Niveau der Sozialhilfe, und die Armut in Deutschland nimmt drastisch zu. Demnächst werden die Renten besteuert, der Staat holt sich Geld bei den Schwachen. Dabei spart die öffentliche Hand, wo sie kann, aber es ist immer noch zu wenig. Bald macht der Staat Bankrott.

Was solche Meldungen – die täglich kommen – auslösen, sind schwere Sorgen und Befürchtungen. Berechtigt, möchte man sofort meinen, ja vernünftig, eine rationale Zukunftsangst, die womöglich zu Vorsorgemaßnahmen führt. Lebensversicherungen; Nachfragen, wie sicher der eigene Arbeitsplatz ist, Ausschau nach anderen Arbeitsplätzen; Fortbildung. Womöglich fände sich eine Mehrheit für Arbeitszeitverlängerung bei gleichzeitigem Lohnverzicht – hie und da redet jemand vom Auswandern.

Aber Angst ist niemals bloß vernünftig auf Drohungen bezogen, die aus der Realität kommen. Das kann man im Augenblick schön an einer Angst beobachten, die völlig fehlt, obwohl realistische Einschätzungen sie geradezu fordern. Ein Flugzeug stürzt in den Kölner Dom, und gleichzeitig werden in drei Intercityzügen Bomben gezündet, die in Frankfurt am Main, Hamburg und München den Bahnhof in die Luft sprengen und viele Tote und Verletzte zurücklassen. Auch Deutschland, werden die Zeitungen ahnungsvoll resümieren, ist vor islamistischem Terror nicht geschützt …

Nein, davor hat im Augenblick niemand so richtig Angst; obwohl man vernünftige Gründe dafür anführen könnte. Stattdessen herrscht wieder einmal diese Angst vor Schwund und Verlust und Verarmung, die sich vor allem an statistischen Rechnungen festmacht. Gut kennen wir diese Angst aus der Zeit, als die Energieversorgung des Planeten im Zentrum der Befürchtungen stand. Die industrialisierte Gesellschaft, wusste jeder Zeitungsleser, ganz gleich welcher Arbeit er nachging, die moderne Welt vernutzt ihre eigenen Grundlagen in der Natur, und bald schaut die Erde aus wie der Mars: eine leere Wüste.

In dieser Gestalt ist die Angst vor Verlust und Schwund und Verarmung im Augenblick ein wenig in den Hintergrund getreten. Jetzt dominiert die Angst um den Wohlstand und seine Verteilung. Jeder Bettler, dem man in der U-Bahn einen Euro gibt (oder verweigert), scheint zu mahnen: Das bist du. Wenn die sozialen Sicherungssysteme, weiß jeder Zeitungsleser, weiter abgebaut werden; wenn die Wirtschaftsflaute anhält und weitere Arbeitslose generiert, dann bist irgendwann unweigerlich auch du dran.

Dabei nährt sich diese Angst aus einem – wie soll man sagen – Folklore gewordenen Marxismus. Während die (vielen) Armen, weiß jeder Zeitungsleser, immer ärmer werden, wächst der Wohlstand der (wenigen) Reichen unablässig. Die Überzeugungskraft dieses Schemas ist unmittelbar zu verspüren. Man glaubt es auf Anhieb, diesseits aller Statistik.

Anders als bei der Angst um die Energieressourcen, die von der Menschheit unwiederbringlich verschwendet werden, ist der ökonomische Reichtum noch da. Er ist bloß woanders, gleichsam ins Verborgene verbracht, wo ihn eine bösartige Macht hütet und mehrt, eine Macht, auf die niemand Einfluss hat oder Einfluss nehmen will. Dass wir hier mit einer halbwegs realistischen Widerspiegelung der kapitalistischen Verhältnisse befasst seien, das soll sich niemand vormachen. Mir hat mal ein Gartenarbeiter, während er beklagte, dass eine nahe Parkanlage infolge von Sparmaßnahmen so verwahrlose, höhnisch die Goldkettchen und Fingerringe vor Augen geführt, die zur selben Zeit die städtischen Angestellten im Rathaus immer noch tragen. Sie sind es also, die mittels der Sparmaßnahmen den öffentlichen Reichtum an sich bringen; wenn sie ihre Schmucksachen verkauften und mit dem Erlös die Gartenarbeit finanzierten, sähe die Parkanlage nahebei wieder picobello aus.

Nein, hier liegen offensichtlich keine volkswirtschaftlichen Kenntnisse zugrunde. Diese Verarmungsangst verwendet mythische und Märchenmotive; diese verleihen der Statistik die Überzeugungskraft.

Äußerst schwer zu entscheiden, ob diese Motive Schaden oder Nutzen bewirken. Gewiss eröffnen sie keine unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten, wie schon das Beispiel der städtischen Angestellten und ihrer Schmucksachen lehrt. Auch denkt niemand, dass der Bettler in der U-Bahn, wenn man ihm die Hälfte des Einkommens abträte, dann ein geordnetes Leben führen würde. Dass halt die Reichen durch einen guten König gezwungen werden müssten, ihren Reichtum mit den Armen zu teilen, sodass die Armut in Deutschland statt von 1,8 auf 4,5 zu steigen (was immer das heißt) auf 0 sinke in diesem reichen Land – wer das wünscht, muss sofort erkennen, dass er in einem Märchen befangen ist. Was es erwirkt, dieses Märchen, das ist ein klares Bild des Geschehens, auch wenn es vollkommen in die Irre führt, und diese Klarheit muss große Vorteile bringen. Eine Erklärung ist einfach besser als keine Erklärung.

Vor Anschlägen hat niemand so richtig Angst, obwohl man vernünftige Gründe dafür anführen kann

Vielleicht muss man sich die Angst vor Schwund und Verlust und Verarmung als selbstständige Größe vorstellen, als Phantasma, das sich an der Wirtschaftsflaute ebenso festmachen kann wie an den Energiereserven. Vielleicht muss man sich weiter umschauen, welche Gestalten die Verarmungsangst noch alle annehmen kann. Eine Gestalt, die fürchterliches Unheil angerichtet hat, ist für uns ja vollkommen abgestorben: dass die Deutschen über zu wenig Lebensraum verfügen und deshalb im Osten welchen erobern müssen. Dagegen war eben gerade die Angst hoch aktuell, dass die Deutschen, weil sie sich nur so spärlich vermehren, ihren Lebensraum immer dünner bevölkern und irgendwann aussterben werden – gewiss eine weitere Variante der Verarmungsangst. Der bekannte Frankfurter Mitherausgeber verlieh ihr erfolgreich Ausdruck und ließ uns zugleich eine weitere Variante erkennen: Auch die Angst vor dem Älterwerden mag sich so äußern.

In der Selbstbeobachtung erkennt man sie am leichtesten bei Anfällen von Depression. Niemand ruft mehr an, alle Freunde ziehen sich zurück; der Briefkasten enthält nur Rechnungen und Werbematerial. Die Einkünfte werden zwar diesen Monat noch die Kosten decken, aber ab dem nächsten stehst du vor dem Nichts.

Wenn dich nachts um drei die Dämonen wecken, flüstern sie ja mit zäher Vorliebe solche Gedanken an dich hin. Und jeder Einspruch dagegen ist sinnlos; die Dämonen sagen schlicht und einfach die Wahrheit. Aber am anderen Morgen, wenn die Depression verflogen ist, scheint auch die Angst vor Verarmung wie nie da gewesen, obwohl sich an deiner Lage gar nichts geändert hat.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin