Dabeisein: Inklusion in weiter Ferne

Die Integration behinderter Kinder in den Schulalltag funktioniert nicht, sagt die GEW – an allen Ecken fehlt das Geld.

Klasse inklusive Rollstuhlfahrer. Bild: dpa

Die Bildungsgewerkschaft GEW schlägt Alarm: Die Inklusion behinderter Kinder in den Schulalltag leide derartig unter Geldmangel, dass das ganze Vorhaben zu scheitern drohe. „Wenn die Inklusion auf alle Schulen ausgeweitet werden soll, muss dringend Geld in die Hand genommen werden“, sagte kürzlich Lothar Semmel von der Vereinigung Berliner Schulleiter der GEW und zugleich Leiter der Clay-Schule in Neukölln. Laut GEW-Sprecher Tom Erdmann ist dafür zusätzlich jährlich ein „hoher zweistelliger Millionenbetrag“ nötig.

Seit 2008 die Inklusion mit der UN-Behindertenkonvention zum Menschenrecht erklärt wurde, stehen die Schulen – nicht nur in Berlin – unter Druck, sich so zu verändern, dass gemeinsames Lernen möglich ist. Einiges ist auch schon passiert: In der Hauptstadt gehen inzwischen fast 60 Prozent aller behinderten Kinder auf die sogenannten Regelschulen und immer mehr Schulen arbeiten ganz oder teilweise inklusiv. Allerdings würden die Bedingungen für die Förderkinder, wie sie genannt werden, immer schlechter, klagt die GEW. Es fehle praktisch an allem: Sonderpädagogen, Schulhelfern, Räumlichkeiten.

Die Zahlen, die die GEW präsentiert, sind in der Tat alarmierend: So haben sich die Förderstunden, die etwa Kinder mit Schwächen im Bereich LES (Lernen, emotional-soziale Entwicklung, Sprache) pro Woche bekommen sollen, in den letzten zehn Jahren von 5 Stunden auf 1,5 bis 2,5 Stunden halbiert. Grund: Weil der Etat für Inklusion gedeckelt ist, wurden seit 1999 kaum neue Sonderpädagogen eingestellt – obwohl sich die Zahl der Förderkinder an Regelschulen, wie es politisch gewünscht ist, seither mehr als verdoppelt hat: von 5.120 Kindern im Schuljahr 1999/2000 auf 12.330 in 2013/14.

Und noch nicht einmal diese wenigen Förderstunden bekommen die Kinder: Laut der Antwort des Senats auf eine Anfrage im Abgeordnetenhaus von der Grünen Stefanie Remlinger erhielten im Schuljahr 2013/2014 rund 5.000 Förderkinder weniger Stunden, als ihnen zustanden. Dadurch sparte der Senat in diesem Schuljahr fast 200 Stellen für Sonderpädagogen ein.

Im Februar 2013 stellte Bildungssenatorin Sandra Scheeres ihr Konzept Inklusive Schule vor. Danach sollen Kinder mit Förderbedarf LES (Lernen, emotional-soziale Entwicklung, Sprache), die rund 70 Prozent aller Förderkinder ausmachen, nur noch in Regelschulen gehen. Die Sonderschulen und Diagnosen für diese Bereiche sollen abgeschafft werden. Die Schulen würden sozial gestaffelte pauschale Zuweisungen für Sonderpädagogen bekommen, für Schulen mit besonders vielen Förderkindern würde es einen "Nachsteuerungspool" mit 300 Sonderpädagogen geben.

Aktuell finanziert das Land 1.414 Vollzeitstellen für Sonderpädagogen in Regelschulen mit jährlich 82 Millionen Euro. Für Schulhelfer stehen in diesem Jahr 10 Millionen Euro zur Verfügung. (sum)

Die Folge: Die Kinder könnten nicht so gefördert werden, wie sie das eigentlich müssten, erklärt Robert Giese, Leiter der Neuköllner Fritz-Karsen-Schule. Weil er für immer mehr Förderkinder immer weniger Förderstunden – und damit Sonderpädagogen – bewilligt bekommt, schaffe er es immer seltener, zwei Lehrer pro Integrationsklasse einzuplanen.

Dass diese „Doppelsteckung“ mit einem Lehrer und einem Sonderpädagogen in Klassen mit behinderten Kindern eigentlich notwendig ist, erklärt Giese an einem Beispiel. So habe eine seiner Lehrerinnen im Unterricht bemerkt, dass ein Schüler mit Sprachstörungen nicht mitkommt. Weil sie allein im Unterricht war, konnte sie ihm jedoch nicht helfen. „Sie hat ja noch 24 andere Kinder“, so Giese. Solche Situationen führten nicht nur zu Frust bei den Lehrern, sondern auch bei den Förderkindern. „Das führt eventuell zu weiteren Verhaltensauffälligkeiten.“

Ähnliches berichtet Schulleiter Semmel von der Clay-Schule. Die Kürzungen bei den Förderstunden habe dort solche Ausmaße angenommen, dass die Schule sich von einigen Förderkindern trennen musste, weil sie nicht genug Unterstützung bekommen konnten. „Ursprünglich gab es eine sehr positive Stimmung unter den Lehrern zur Inklusion“, sagt er. „Heute sagen viele Kollegen, das lastet alles auf unseren Schultern.“

Dass Inklusion mit gedeckelten Etats nicht funktionieren kann, zeige sich auch am Beispiel Schulhelfer, ergänzt Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbands. Anfang des Schuljahres war bekannt geworden, dass zahlreiche behinderte Kinder nicht genug Schulhelferstunden bewilligt bekommen hatten (taz berichtete). Die Schulhelfer helfen körperlich Behinderten bei ihrer Mobilität, bei Toilettengängen, Nahrungsaufnahme oder Medikamentierung. Da immer mehr Kinder mit diesem Bedarf auf die Regelschulen kommen, der Etat für Schulhelfer aber fast gleich bleibt, „wird die Suppe natürlich immer dünner“, so Hirschmann, langjährige Leiterin einer Kreuzberger Grundschule.

Immerhin hat der Senat vor kurzem zusätzlich 750.000 Euro für Schulhelferstunden bis Jahresende zur Verfügung gestellt. Dennoch bleiben laut GEW gravierende Probleme: Zum einen sei die Finanzierung für 2015 noch offen. Zudem sollten Schulhelfer längerfristig an einer Schule beschäftigt werden und nicht Jahr für Jahr neu beantragt werden müssen. „Das sind Vertrauenspersonen für die Kinder, die in Intimsituationen helfen“, so Hirschmann. Und: Die Schulhelfer müssten auch nachmittags arbeiten. „Der Pflegebedarf ist, wie die Schule, ganztägig“, macht Hirschmann deutlich. Bislang übernehmen die Erzieherinnen am Nachmittag die körperliche Pflege, was zu deren deutlicher Überlastung führe.

Auch Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) hält die Deckelung des Inklusionsetats für schwierig, sagt ihre Sprecherin Beate Stoffers. Der aktuelle Zustand sei „kein gutes Vorzeichen für die Weiterentwicklung der Berliner Schulen zu inklusiven Schulen“. In den anstehenden Haushaltsverhandlungen für den Doppelhaushalt 2016/17 werde es „darauf ankommen, wie weit sich die sonderpädagogische Integration auch personell sichern lässt“.

Dass diese Verhandlungen hart werden, weiß Scheeres. Im letzten Doppelhaushalt bekam sie kein Geld für die von ihr geplante Aufstockung der Sonderpädagogen um 300 Stellen. Die Umsetzung ihres Konzepts Inklusive Schule musste sie verschieben: Frühestens 2016/17 soll es losgehen.

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